Es ist die Zeit des Jahres. Wer jetzt nicht ans Laufen kommt, dem ist irgendwie auch nicht mehr zu helfen. Der Druck von aussen steigt. Überall sieht man Läufer, die im Winterschlaf waren, wieder aus ihren Höhlen kriechen.
Ab und an sichtet man sogar einige Neueinsteiger, die sich durch Wälder schleppen, bei denen es schon ganz gut läuft. Die Natur ist schwer in Bewegung, sie will! Sie will wach werden, sie hat Bock. Alle müssen sowieso Bock haben, das sagen viele Fernsehberichte, Magazine, Online-Portale. Es ist sehr sehr sexy, Bock zu haben. Gesund zu sein, das ist sexy. Sportlich zu sein, das ist sexy. Dünn zu sein, das ist sowieso mega sexy. Damit aber nicht genug. Wer wirklich richtig sexy sein will, und wer ein erfolgreicher und sexy Läufer sein will, der ist bis an die Zähne bewaffnet.
Mit einem Fitnessarmband, mit einer GPS-Uhr, mit bunten schönen engen Sachen, mit einer Batterie von Trinkflaschen, die in der Summe mehr wiegen als der Läufer selbst. Schliesslich muss ein Fünf-Kilometer-Lauf wenigstens aussehen wie ein Marathon. Das ist alles sehr adäquat. Das ist alles sehr lässig. Das dient vor allen Dingen alles zur Motivation.
Denn Motivation ist das, was vielen fehlt, endlich loszulaufen – oder um dauerhaft dranzubleiben. Sie können das alles mitmachen. Lesen und sehen Sie gern jeden Bericht, shoppen Sie Motivationssachen, bis der Geldbeutel blutet, seien Sie bunt und schrill! Das geht völlig in Ordnung. Die echte Motivation zum Laufen ist jedoch eine ganze andere Sache. Die echte Motivation zum Laufen kommt von Herzen, vom Gefühl, von der Verbundenheit mit Natur und der Läuferseele. Die echten und gesunden Motivations-Tools liegen auf der Strasse. Sie müssen nur genau hinsehen.
Tägliche Veränderungen in der Natur
Wer gerade zu dieser Jahreszeit jeden Tag läuft, und seien es auch nur ein paar Kilometer, sieht, wie sich die Natur jeden Tag ein wenig verändert. Und das bekommen Sie nur mit, wenn Sie jeden Tag in der Natur sind.
Sehr zart fängt es an, in leisen Sprüngen erwacht die Natur. In immer stärkeren Schüben werden Farben deutlicher und kräftiger, jeden Tag steigt die Energie. Wer hier genau hinsieht, kann eine Parallele zur eigenen Entwicklung entdecken. Beginnt man im Rhythmus der Natur mit dem Laufen, wird man feststellen, dass man selbst – ähnlich wie die Natur – kräftiger und lebensfroher wird. Und das ist zu erklären.
Wir sind eben ein Teil des Kreislaufes. Leider tun wir vieles, daraus auszubrechen. Wer sich jedoch auf dem natürlichen Kreislauf wieder einlassen kann, erlebt einen perfekten Start in ein hoffentlich wunderbares Laufjahr.
Wer die Kraft der Natur mitnimmt, sich ihrer Geschwindigkeit anpasst, spürt, wie die Lebens- und Laufgeister erwachen, erhält das, was ich meine, wenn ich von «innerer und echter Motivation» spreche. Diese hat eine Nachhaltigkeit, die durch keine gekaufte Sportklamotte, durch kein technisches Lauf-Gadget zu erreichen ist.
Diese Motivation ist nicht käuflich
Diese Art der Motivation ist deshalb so besonders und so schwer zu bekommen, gerade weil man sie nicht kaufen kann. Weil sie voraussetzt, dass man Gefühlen und Emotionen wieder einen gewissen Raum gibt. Dass man sich einlässt auf die Natur. Aber vor allen Dingen auch auf Körper und Seele. Dazu gehört eine gewisse Achtsamkeit und Demut, wenn es um unsere Psyche geht.
Wer mit dem Laufen beginnen will, wer im Frühling wieder einsteigen will, der kann Achtsamkeit und Demut durchaus von der Natur lernen. Es gibt gute Gründe, warum gerade die Pflanzen langsam und sehr zart beginnen, wieder zum Leben zu erwachen.
Eine gewisse Vorsicht tut not, denn wenn sich die jungen Blüten zu schnell komplett entfalten, können sie bei einem Temperatursturz schnell sterben. Und so ist es mit unserem Körper. Wer zu schnell zu viel will, kann oder muss sich gar auf Verletzungen einstellen.
Und gerade dadurch gibt es enorme Rückschläge. Wer in den Körper hineinhört, langsam Kondition und Kraft aufbaut, wird im Sommer ein kräftiger und gesunder Läufer sein. Das kann das teuerste Material nicht leisten. Demut und Achtsamkeit sind gesunde Qualitätstreiber.
Der Läufer lernt für das Leben
In den Berichten und Artikeln tauchen Expertenmeinungen auf. Und jeder muss für sich genau filtern, was und wie viel er annehmen möchte. Was sich richtig anhört und was nicht. Ich finde, es gibt keine besseren Erklärer als weise, alte Läufer. Gerne über 70, gerne sehr langsam, gerne Genussläufer, gerne Damen und Herren, die jede Strecke gelaufen sind, jeden Stein kennen, jede Verletzung, jede Form der Ernährung, jede Pulsuhr oder auch keine schon benutzt haben.
Auch hier lernt der Läufer fürs Leben. So wie von einem guten Gespräch mit Grossmutter oder Grossvater, Mutter oder Vater. Lange Zeit war es uncool, auf die «Alten» zu hören. Ich würde «den Alten zuhören» so gerne zu einem Trend machen. Zu einem ähnlich starken Trend wie all die modere Technik, die uns zum besseren Laufen verhelfen soll. Dieser Trend wäre allerdings unbezahlbar. Denn auch er wäre mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Und dabei ist er viel wertvoller, denn er ist gratis.
Auf meiner Laufstrecke treffe ich regelmässig Herrn Stock, einen Rechtsanwalt im Ruhestand. Herr Dr. Stock läuft jeden Tag. Immer wieder unterhalten wir uns einige Minuten, stoppen dafür unseren Lauf. Und immer wieder erhalte ich wertvollen Rat, einfach nur, weil Dr. Stock redet. Und ich zuhöre. Wir reden immer und immer übers Laufen. Keiner von uns beiden gibt Expertentipps, wir reden einfach.
Und weil wir beide zwischen den Zeilen lesen können, ziehen wir uns das aus der Erfahrung des anderen, was wir so gebrauchen können. Und weil wir zwischen den Zeilen lesen können, und zwischen den Zeilen hören können, verstehen wir. Und motivieren uns gegenseitig.
Vor einigen Wochen schleppte ich mich durch den Wald. Eine leichte Erkältung wollte weder richtig ausbrechen, noch wollte sie sich verflüchtigen. Ich war sehr langsam unterwegs. Dr. Stock überholte mich, hielt an, und rief mit grosser Freude: «Endlich, endlich habe ich Sie. Ich bin jetzt genauso schnell wie Sie, Herr Kleiss. Mein Training der vergangenen Wochen hat sich gelohnt!» Ich habe nichts gesagt. Ich habe einfach die Freude von Dr. Stock genossen. Sein Lachen. Sein inneres Jubeln. So läuft es.
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