Freiheit kann zum Beispiel so aussehen: Es ist der 11. April des Jahres 1945. Ein Mann sitzt hinter einem Mikrofon. «Wir sind frei», sagt er. Hinter ihm, durchs Fenster, sieht man ein großes Tor. «Jedem das Seine» steht in eisernen Buchstaben über dem Durchlass. Die Schergen des Teufels sind geflohen. Der Tag der Befreiung ist da. Der Mann sieht aus, als würde er nicht glauben, was passiert ist, was er da gesagt hat.
Kaum hat er es aber getan, sieht man gebeugte Gestalten in gestreiften Anzügen aus den Lagerhütten wanken, wie orientierungslos über den Appellhof des Konzentrationslagers Buchenwald gehen. Noch hängt ihnen die Vergangenheit auf den Schultern. Die Folter, die ganze Hölle, durch die sie mussten in den Monaten, den Jahren. Die Juden, die Kommunisten, die Kinder, die Greise. Der Zukunft zugewandt ist da keiner. Helden sehen anders aus. Das Wetter ist schön.
Freiheit kann aber auch so aussehen: Es ist der 11. April des Jahres 1945. Ein Mann steht hinter einem Mikrofon. «Wir sind frei», sagt er. Er weiß, was passiert ist. Er kann es trotzdem kaum glauben. Die Leute aus den Lagern haben sich selbst bewaffnet, die Schergen des Teufels vertrieben. Er zögert, dann wird er mutig. Wie ein Rockstar spricht er die Worte ins Mikrofon. Er ist der Erlöser. Da strömen sie aus den Hütten wie die revolutionären Soldaten bei Sergej Eisenstein über den Roten Platz.
Ein Kind tragen sie mit sich. Das ist ihr Freiheitsfanal. Der Ausweis ihrer Menschlichkeit. Sie rasen dem Tor zu. Sie wollen die Zukunft. Sie sind Helden. Die Sonne ist durch die Wolken gebrochen. Und «einer Nussschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen. Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riss es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war.»
Mit diesem Fanal, dieser Epiphanie geht der erfolgreichste Roman der DDR zu Ende. «Nackt unter Wölfen», geschrieben von Bruno Apitz, der acht Jahre in Buchenwald einsaß, der von seinen kommunistischen Freunden versteckt im Loch hockte, als die Befreiung kam. 1958 erschienen, der eigentlich unmögliche Fall eines sozialistischen Bestsellers. Gut drei Millionen Mal verkauft, in 30 Sprachen übersetzt, der erste Roman, der in der Bundesrepublik erscheinen durfte. Schullektüre an den Schulen der DDR. Die entfesselten Arbeiter, die Selbstbefreiung, all das bildet die Basislegende des Arbeiter- und Bauernstaates. Dieser Topos ist gleichsam der Urmeter des Antifaschismus.
Dreimal wurde dieser Urmeter filmisch vermessen. Das erste Mal 1960 fürs DDR-Fernsehen. Diese Adaption ist weitgehend vergessen. Das zweite Mal 1962 von der Defa-Legende Frank Beyer, besetzt mit den Stars der Defa, mit Erwin Geschonneck, mit Armin Müller-Stahl, oscarnominiert und nationalpreisgekrönt – Urmeter auch des DDR-Kinos.
Das dritte Mal haben sich jetzt, zum 70. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald durch die US-Armee, Philipp Kadelbach und Stefan Kolditz der Geschichte vom kommunistischen Widerstand gegen die SS im Lager Buchenwald und von der wundersamen Rettung des dreijährigen jüdischen Kindes Stefan Jerzy Klein angenommen. Mit Sylvester Groth, (der 1983 sein Filmdebüt in Frank Beyers «Der Aufenthalt» hatte) und mit Florian Stetter (dem Schiller aus Dominik Grafs «Die geliebten Schwestern»). Kadelbach, der Regisseur, und Kolditz, der Drehbuchautor, haben den ZDF-Dreiteiler «Unsere Mütter, unsere Väter» gemacht. Der Film erzählt die Geschichte vierer junger Deutscher während des Zweiten Weltkriegs. Die Macher wurden dafür gefeiert und ziemlich heftig kritisiert, weil man ihnen unter anderem vorwarf, sie würden den Holocaust verharmlosen.
Von Verharmlosung dessen, was den 250.000 Häftlingen von Buchenwald angetan wurde, kann in diesem neuen Film jedenfalls keine Rede sein. Kadelbach und Kolditz, die ihre Adaption nicht als Romanverfilmung, sondern als Verfilmung von Motiven der Geschichte von Bruno Apitz verstehen, gehen einen konsequent anderen Weg als Frank Beyer.
Die Legende nämlich von der Befreiung des Lagers durch den bewaffneten Widerstand der tatsächlich vorhandenen kommunistischen Untergrundorganisation, die Legende also vom Beginn der antifaschistischen Tradition im Lager, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als historisch nicht haltbar erwiesen. Zumindest nicht so, wie sie von Apitz und Beyer erzählt wurde. Die Geschichte des «Buchenwaldkindes» war nicht nur geringfügig eine andere. An Heldengeschichten wird nicht mehr so geglaubt.
Es gibt heute keinen Druck, eine staatstragende Geschichte zu erzählen, eine einheitliche ideologische Linie zu formulieren. Dass es aber Geschichten geben muss, die Zeugnis ablegen von den Schrecken der Lager und von den Triumphen, die sich eben auch ereignet haben, daran hat sich nichts geändert. Sie müssen nur eben für jede Generation neu erzählt werden.
Frank Beyer hatte «Nackt unter Wölfen» als Kammerspiel inszeniert, als Spiel der Gesichter, ohne Farbe, ohne Musik. In Innenräumen, denen man ansah, dass es Kulissen waren. Ein Ideendrama, ein Spiel für die innere Leinwand, ein Lehrstück über die Moral und Brüchigkeit und Kraft eines Kollektivs. Was sich im Lager abgespielt haben muss, die Folter, die Qualen, die reale Bedrohung, das wirkliche Töten, hatte er weitgehend bis auf das unbedingt Nötige ausgespart. Da hätte er, vielleicht weil alles zu frisch war, die Bilder, die Erinnerung, nur verlieren können. «Nackt unter Wölfen» in der Defa-Variante ist ein abstraktes Kunstwerk. Ein großes, inzwischen ein bisschen fremdes Kunstwerk.
Philipp Kadelbach bricht die Distanz, auf der Beyer beharrt, von Anfang an. Er emotionalisiert die Geschichte, er individualisiert sie. Wir sehen Pippig, Hans Pippig, einen der Verschleppten, von denen Apitz erzählt, wie er am Fluss liegt. Der Vater ist da, die Mutter, die Frau ist schwanger. Von Flugblättern ist die Rede und ob das Kind Emil oder Anton (beides nach Kästner) heißen soll.
Von dem allen wird später in Rückblenden erzählt werden. Die Familie, das Kind, wird zum Fluchtpunkt. Und dann geht er ins Lager, sein Vater ist bei ihm. Es ist ein Morgen des Jahres 1943, der Nebel steigt, er verschluckt die Leute, er löscht ihre Existenz. Sie sind im Lager.
Das Risiko des Scheiterns an der Bebilderung des Schrecklichen ist in den Jahren seit Beyers Lagerdrama nicht geringer geworden. «Fateless» zum Beispiel, Lajos Koltais Verfilmung von 2005, entstanden nach dem «Roman eines Schickssallosen» des Buchenwaldüberlebenden und Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz, schlug trotz oder wegen des ersichtlich besten Willens in einen unfassbaren Holocaust-Kitsch um. Kadelbach gelingt dieser hochheikle Balanceakt. «Nackt unter Wölfen» ist ein brutaler Film. Aber er weidet sich nicht an der Gewalt, er zeigt sie.
Jede Folterszene, jeder Mord hat eine dramaturgische Funktion. Einmal zum Beispiel fällt ein SS-Mann über zwei Gefangene her. Sollen die sich nicht zu sicher sein, sagt er, dass er, wo jetzt die Amerikaner schon ganz nah sind, milder ist, um sich lieb Kind zu machen, damit sie ihn hinterher, wenn alles vorbei ist, als feinen Kerl feiern. Den einen erschlägt er. Auf den zweiten legt er mit der Pistole an. Das sieht man über die Schulter einer Frau, die aus einem der Häuser am Platz dem Ganzen zugeschaut hat. Reglos. Die Hand am Fenstergriff.
Kadelbach und Kolditz interessieren sich für Ideologie ungefähr so wie für Heldentum, nämlich gar nicht. Die psychologische Tiefenschärfe ihrer Version ist trotzdem nicht geringer als die der Beyerschen. Das Ensemble macht das alles mindestens genauso beeindruckend: Wie schnell man schuldig werden konnte, wie da die Grenzen verwischen, wie Solidarität zerbröckelt, wenn es um die eigene Haut geht, wie Verrat entsteht und Menschlichkeit sich trotzdem Bahn bricht. Soll sich keiner sicher sein, auch lernt jeder schnell, wie er sich verhalten hätte inmitten dieses Brennpunkts der Barbarei.
Kadelbach und Kolditz retten «Nackt unter Wölfen» für die Gegenwart. Es ist ein notwendiger Film. Und er macht den anderen notwendigen Film, der sich der sozialistischen Legende des Bruno Apitz verdankt, mit keiner Sekunde überflüssig. Fast ein Wunder.
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