Der Österreicher Adolf Loos schrieb einst «Ornament und Verbrechen», eine Art Kampfschrift wider das endlos repetierte Traditionelle, das sich durch unsere Existenz mäandert. In der Architektur der Moderne scheint das angekommen zu sein, hat aber nicht zwangsläufig zu besseren Lebensbedingungen geführt.
Das Ornament ist zwar als dekorative überall-Strategie auf Alltagsgegenständen so gut wie verschwunden, aber auf technischen Oberflächen oder in städtebaulichen Strukturen so existent wie nie zuvor. Das klingt so als würde ich es wie Loos halten, aber das ist falsch. Ich würde gerne mehr Ornament im Alltag des Oberflächeneinerleis etablieren, insbesondere in den schier endlosen Glasflächen konturloser Grossstadtfassaden.
Ästhetischer Opportunismus der besonderen Art
Bin ich aber an Plätzen der Welt die meinem Hang zum Ornament entsprechen - zum Beispiel Rom - stellt sich etwas gänzlich anderes als Genussempfinden ein. Beim flanieren zwischen dem Ekberg/Mastrojanni kontaminierten Fontana di Tevi und dem Castel Sant’Angelo sind sie plötzlich da, die Zweifel an meinem Ornamentbedürfnis. Denn die vielen visuell frei zugänglichen Quadratmeter touristischer Haut brennen sich mit unerbittlicher Härte in meine Retina und verwirren mich mit einem ästhetischen Opportunismus der besonderen Art.
Das liegt nicht an den vielfältigen Farben und Formen der Körperbedeckungen, sondern an der ultimativ-ornamentalen Tribal/Mecanic/Archaik-Party, die im Verborgenen tobt - auf Oberarmen, am Gesäss oder auf Schulter und Rücken tanzt der visuelle Bär.
Visuelle Schule
Ich will an dieser Stelle keinesfalls ausholen und eine kulturelle Herleitung oder Rechtfertigung dieses formalen Masochismus liefern. Nein, ich betrachte eher die aktuelle visuelle Schule die sich auf den Körpern gegenwärtiger Generationen abbildet und mit grafischen Elementen dekoriert. Diese Welt erscheint mir vielgestaltig und völlig losgelöst von den Entwicklungen im Grafikdesign, in der Illustration oder der Kunst - warum eigentlich?
Ja, es gibt verzweifelte Versuche die Tätowierung zur Kunst zu stilisieren und sie aus den Refugien der rotierenden Streckenbach Tätowierungsmaschinen herauszuholen, aber es bleibt bei Absichtsbekundungen ohne das neue Tattoo-Konzepte sichtbar werden.
Tätowierung als arbeitsteiligen ästhetischen Prozess
Ganz wenige Projekte schaffen es aus meiner Sicht eine kulturelle Relevanz zu entwickeln. Shelley Jacksons «Ineradicable Chain Project» projiziert zum Beispiel Typografie und Content in einen aus 2000 freiwilligen bestehenden Kollektivkörper und definiert Tätowierung als arbeitsteiligen ästhetischen Prozess.
Der Künstler Wim Delvoye geht ganz andere Wege und tätowiert beispielsweise Schweine mit den Luxusinsignien unserer celebritygläubigen Konsumwelt. Er eröffnete ausserdem einen völlig neuartigen Tattoodiskurs als er 2008 eine bereits ausgeführte Tätowierung an den deutschen Kunstsammler Rik Reinking verkaufte und so die Besitzverhältnisse zwischen Individuumm und Markt in entwaffnender Weise offenbarte.
Eine gewisse Eindimensionalität
Dringt man dagegen als grafischer IM tiefer in die hermetische Welt des tätowierenden Establishments ein, fällt mir eine gewisse Eindimensionalität - eine Art Gestaltungsdoktrin auf, welche die Moderne und deren Intention komplett vergessen hat. All diejenigen die eine Tätowierung als dauerhafte Insigne der Abgrenzung, Selbstdarstellung, Protests oder als Reminiszenz an geheime Bedürfnisse an/in sich tragen wollen, sollten sich zukünftig fragen ob sie wirklich als historisierende Litfasssäule agieren oder den Mut zur Erneuerung nach aussen kommunizieren wollen.
Was gegenwertig auf der Epidermis der Welt versammelt ist, erinnert mich jedenfalls an ein ostentativ, ewig grüssendes Murmeltier, weitab irgendeiner originellen oder eigenständigen Haltung. Gut - einige von uns empfinden die indigene Welt der Maoris und deren Whakapapa-Kultur als Hort der Erinnerung und Authentizität oder haben Sons of Anarchy gesehen und bewundern die Outlaw-Existenz als geradlinige Form einer Endzeit-Romantik mit klarer Abgrenzung von bürgerlichen Normen.
Bewusstein für Typografie und ihre Zeit? - Fehlanzeige
Trotzdem sei die Frage erlaubt ob es in der Regel ungekonnte Typografie- und Naiv-Fantasy-Endzeit-Bildwelten sein müssen, mit der die Botschaften ins Hirn des Betrachters getrieben werden sollen? Leseergonomie? Historisches Bewusstein für Typografie und ihre Zeit? Körperbezogenheit? Wirklich neue Motive? Fehlanzeige. Dagegen Frakturexzesse oder aus freeware Skript-Schriften zusammengeschusterte Oligarchen-Opulenz mit dekorativen Krakenarmen, die jedem Kalligrafen die Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt. Die Schriftbibliotheken der Branche gehören im Sinne einer qualitätsvollen gestalterischen Dimension überarbeitet, denn näher kommt die Kommunikation ans Individuum nicht dran.
Welche Rolle kann die Tattookultur übernehmen?
Wir brauchen nicht ein Mehr an schlechten Imitationen traditionell ausgereifter Schrifttypen und keine Motorradtank-Ästhetik der ersten Generation, die selbst ein Winston Yeh aus seiner Custom-Welt verbannt hat, sondern einen ernsthaften Diskurs darüber, welche Rolle die Tattookultur zukünftig gesellschaftlich übernehmen könnte. Selbst im Archaischen hat alles eine soziologisch begründete Ikonographie deren Story auch für den mittelalterverliebten Protagonisten eine interessante Alternative zu den hollywoodnahen Meetoo-Szenarien wäre.
Liebe Tätowierer/innen bitte schauen Sie mal bei Max Miedinger, bei Hermann Zapf oder auch bei David Carson, Wim Crouwel oder Neville Brodie in den einschlägigen Schriftbibliotheken nach, die Haut wird es ihnen danken. Ausserdem gibt weitab der Computerspielästhetik historisch interessante Bildwelten zum Beispiel Gustave Doré oder Francisco de Goya.
Oder ganz anders - wie wäre es mit der ersten generativ-erzeugten Tätowierung? Auch dem Tätowierwilligen sei ans Herz gelegt: Lieber auf eine inhaltlich gestalterische Qualität beharren als zum millionensten Mal einer pseudoindividualistischen Allerweltsillustration den Vorrang geben - man trägt sie ja ein Leben lang mit sich herum.
Authentisch-diskreten körpereigen Kommentar
Die nachvollziehbare Abkehr von den dirigistischen formalen Faktoren der industriellen Produktion würde so mit Mut vorgetragen werden und nicht nur eine weitere Konvention bedienen. Was die Design- und Tattoowelt anbelangt fehlt aus meiner Sicht auf beiden Seiten die Bereitschaft, einen typografisch und ikonografisch versierten Dialog zu beginnen. Die moderne Tätowierung sollte, egal wie alt, aus meiner Sicht nie zum Stigma geraten sondern einen authentisch-diskreten körpereigen Kommentar umstechen.
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