Als am 19. August 1978 bei einem Brandanschlag auf das Kino Rex in der iranischen Stadt Abadan 430 Menschen umkamen, zeigte die Opposition auf den Geheimdienst des Schah. In Wirklichkeit war der Plan von Geistlichen in der heiligen Stadt Ghom ausgeheckt worden, um die revolutionäre Wut anzustacheln – und hatte Ayatollah Khomeini nicht verkündet, Kinos seien Zentren der Prostitution?

Trotzdem entging das Kino nach der islamischen Revolution dem Bannstrahl der Moralwächter, und heute produziert es so viele Spielfilme wie das bundesdeutsche und ist eines der aufregendsten der Welt, trotz – oder vielleicht gerade wegen – der vielen Gebote und Verbote, die die Zensur ihm auferlegt. Nicht umsonst gingen zwei der letzten fünf Goldenen Bären der Berlinale an iranische Filme, holte Asghar Farhadis «Nader und Simin – eine Trennung» den Oscar.

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Farhadi, Kiarostami, Makhmalbaf, Panahi, Ghobadi, Pitts – das sind Namen, mit denen sich jedes grosse Festival der Welt (ihre Heimat ausgenommen) seit der Jahrhundertwende gerne schmückt. Doch nun gibt es schon wieder eine jüngere Generation, und was sie – ermutigt durch das liberalere Regime des neuen Präsidenten Rohani – in den vergangenen zwei Jahren gedreht hat, ist schlicht unglaublich. Ein Dutzend dieser Filme, alles Erst- und Zweitlinge, waren vor Kurzem beim Filmfestival in Zürich zu sehen.

Absurdes auf Teherans Strassen

In «Madar-e Ghalb Atomi» («Atomherz») gibt es einen Gastauftritt von Saddam Hussein. Jawohl, jener Saddam, der den Iran – unter anderem mit Hilfe deutscher Waffen und amerikanischer Luftaufklärung – mit einem achtjährigen Angriffskrieg überzog, welcher einer halben Million Iraner das Leben kostete.

In Ali Ahmadzadehs Film kreuzen zwei unternehmungslustige junge Frauen mit ihrem Auto durchs nächtliche Teheran, nehmen diverse Passagiere auf – und schliesslich sitzt Saddam auf der Rückbank, etwas ramponiert, aber unverkennbar der Todfeind der islamischen Republik, der offenbar beim Kriegsgegner inkognito untergeschlüpft ist.

Das ist absurd, und Ahmadzadeh steigert die Absurdität noch, indem er sich weigert, Alarm zu schlagen; Saddam sitzt da ein paar Minuten, die Frauen wundern sich, und dann steigt er wieder aus, ohne dass die Episode für den Ausgang wichtig wäre.

Filme müssen einen Zensur-Hindernislauf bestehen

Im Lauf der Fahrt werden von Arineh und Nobahar mit ihrem losen Mundwerk so ziemlich alle Kernprobleme des Landes durchgehechelt, von der Atombombe über die Todesstrafe bis zu den Taugenichts-Männern aus Ghom, aber sie tun das mit einer Unernsthaftigkeit, die nur jenen innewohnt, die überzeugt davon sind, dass ihre Meinung sowieso nicht zählt; so hat bei uns die «No-Future-Generation» der Achtziger und Neunziger geredet.

Die entscheidende Figur von «Atomherz» ist ein anderer mysteriöser Passagier, ein attraktiver junger Mann, der sich zunehmend als Psycho entpuppt (wie man im Westen sagen würde), nicht loszuwerden ist und offenbar hinter zwei Dingen her ist: Geld – und den Seelen der Frauen. Man wundert sich, wie dieser Mephisto – vielleicht eine Chiffre für den Seelenzustand des Landes – die Zensur passiert hat.

Dann auch wieder nicht. Die iranische Zensur ist eine vielköpfige Hydra, man braucht eine Erlaubnis für das Drehbuch, eine für die Dreharbeiten, eine für den Kinostart und seit Neustem auch eine, um den Film für ausländische Festivals freizugeben.

Unberechenbare Zensur als Chance

Das ist mühsam, darin liegen aber auch Chancen, weil jedes Zensurgremium anders bestückt ist; was das eine erlaubt, kann das andere verbieten – oder umgekehrt. Seit die konservativen Kräfte des alten Präsidenten Achmedineschad und die fortschrittlicheren von Rohani ihre Fehden austragen, ist das Spiel unberechenbarer denn je.

Dieses Tauziehen kommt immer mal wieder an die Oberfläche, wie beim Fajr, dem grossen nationalen Festival in Teheran. Dort fand die Uraufführung von Reza Dormishians «Asabani Nistam!» («Ich bin nicht wütend!») statt, einem exemplarischen Beispiel des «No Future».

Publikumsfavorit wird von der Liste gestrichen

Ein junger Kurde, wegen unbotmässiger Aktivitäten von der Uni verwiesen (man darf die «Grüne Revolution» dahinter vermuten), möchte mit seiner Geliebten eine Familie gründen, doch deren Vater weist – nicht zu Unrecht – darauf, dass er nie in der Lage sein wird, diese zu ernähren. Am Ende eines tragischen Strudels aus Liebe, Angst und Frustration steht eine öffentliche Hinrichtung am Galgen, bei der die Menge Handyfotos knipst.

«Ich bin nicht wütend» lief offiziell beim Fajr und kristallisierte sich als heisser Kandidat für den Publikumspreis heraus. Doch plötzlich wurde der Film von der Liste gestrichen; warum, lässt sich nur erahnen. Es ist ein gängiger «Kompromiss» zwischen der harten und der weichen Linie, einen Film nicht zu verbieten, aber die Öffentlichkeit, die ihm zugebilligt wird, einzuschränken.

Iranisches Kino auf modernste Art

«Fisch & Katze» («Mahi va Gorbeh») zum Beispiel war zwar zu sehen, aber nur in einigen Centern in Grossstädten, wie dem Azadi in Teheran oder dem Howeyzeh in Maschhad. Dabei ist Shahram Mokris Film eines der Schlüsselwerke des Kinos der selbst genommenen Freiheiten. Es besteht – wie Sebastian Schippers «Victoria» – aus einer einzigen, ungeschnittenen, zweistündigen Einstellung, in der man erst zwei Köchen aus einem einsamen Lokal folgt, dann ein paar Studenten, die sich verfahren haben – und so heftet sich die Kamera an viele Figuren, bis man merkt: Jetzt sind wir doch in einer Szene, die wir vor einer halben Stunde schon gesehen haben!

Mokri schafft nicht nur das Kunststück eines One-Take-Films, es gelingt ihm in dessen Verlauf auch, die Zeit zu beugen, so wie M.C. Escher unmöglich verschachtelte geometrische Konstruktionen malte. Es ist ein Erzählexperiment, mit dem das iranische Kino an das westliche postmoderne Erzählen anknüpft (ihm sogar eins draufsetzt) und sich zugleich den Slasher- und Kannibalenfilm einverleibt (in dem am Ende das Opfer von seiner Ermordung erzählt).

Das Auto als sicherer und privater Ort

Es ist ein untypischer Film der neuen Welle, da er sich in die weite Natur begibt. Ein Besucher der Züricher Werkreihe bemerkte in einer Diskussion, er habe den Eindruck, dass die Hälfte dieser Filme in Autos stattfinde. Das ist gar nicht so falsch, denn ein Auto ist per se ein Schutzraum, nicht so einfach abzuhören und zu lokalisieren und zu kontrollieren wie ein konventioneller Filmset.

Das einsame Haus an der Küste, wo Jafar Panahi «Pardé» («Geschlossener Vorhang»), seinen ersten Spielfilm nach der Verurteilung zu Gefängnis und Berufsverbot drehte, war mit seiner totalen Abdunklung ein solcher geschützter Raum. Der Wagen, in dem sein Berlinale-Gewinner «Taxi Teheran» entstand, war ein solcher Schutzraum, und Arineh und Nobahars Auto ist auch ein solcher.

Regisseure lehnen sich für ihre Kunst aus dem Fenster

Solche Refugien sind auch nötig, angesichts der Unberechenbarkeit der Autoritäten. Panahi wurde mitten in den Vorbereitungen zu einem Film über die Niederschlagung der Nachwahl-Proteste verhaftet, es gab keinen fertigen Film.

Kejwan Karimi wurde 2013 verhaftet, weil er eine Dokumentation über Untergrund-Aktivisten vor und nach der 79er-Revolution plante und auch die Proteste nach den angeblichen Wahlfälschungen bei der Präsidentenwahl 2009 thematisieren wollte. Schon diese Idee führte zu seiner Verhaftung; nach zwei Wochen wurde er bis zu einem Prozess auf Kaution freigelassen.

Nun ist er von einem Gericht in Teheran zu sechs Jahren Haft und 222 Peitschenhieben verurteilt worden. Karimi hatte höchstens mit einer Bewährungsstrafe gerechnet. Bis zur Berufung bleibt er – wie Panahi – auf freiem Fuss, aber nicht alle können neue Kreativität aus dem Damoklesschwert ziehen wie der Berlinale-Gewinner.

Emigration als wiederkehrendes Thema

Trotzdem ist auffällig, wie wenige der neuen iranischen Filmemacher in die Emigration gehen. Auswanderung ist ein überall präsentes Thema der iranischen Gesellschaft. Es steckt im Kern von «Nader & Simin», die «Atomherz»-Mädchen reden darüber, und «Wie viel Uhr ist es in deiner Welt?» («Dardonyaye to sa'at chand ast») dreht es um: Eine Exilantin, angesehene Künstlerin in Paris, kehrt nach 20 Jahren in ihre Heimat zurück.

Der Grund ihrer Rückkehr wird nie klar benannt, vermutlich ist es einfach Heimweh. Sie kommt an einen Ort, an dem die Zeit stehen geblieben scheint, alle erkennen sie noch und begrüssen sie freudig, inklusive ein schon damals heimlich in sie verliebter Rahmenmacher. Safi Yazdanians Film hat einen melancholischen Unterton, aber er handelt vom Stillstand und einer Generation, die dadurch ihrer Chancen beraubt wurde. Das, sagen all diese neuen Filme, wird die neue junge Generation nicht mehr mit sich machen lassen.

Starke Filmfrauen setzen ein Zeichen

«Wie viel Uhr» hat, wie viele dieser Filme, eine Frau als Hauptfigur, was ein Statement für sich darstellt. Leila Hatami (sie war «Simin») spielt sie zurückhaltend und melancholisch, aber es gibt auch die entschlossene Version: Pantea Bahram setzt sich in «Schöner Tag» («Rooz-e Roshan») von Hossein Shahabi in ein Taxi, sie hat sechs Stunden, um das Todesurteil für einen Unschuldigen zu verhindern.

Die weiblichen Figuren des iranischen Kinos der Selbstermächtigung sind Opfer einer Männerherrschaft, finden sich damit aber nicht ab. Manchmal feiern sie kleine Erfolge, manchmal geraten sie in eine fatale Verstrickung. Wie stark könnte dieses Land als freies Land sein.

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