Die einen rufen: «Wir haben es satt». Schon seit Jahren organisiert anlässlich der Grünen Woche ein breites Bündnis von Kritikern der konventionellen Landwirtschaft unter dieser Parole den Protest «gegen Agrarindustrie» und «für Bauern».
Die anderen antworten dieses Jahr zum ersten Mal: «Wir machen euch satt.» Zwischen den einen und den anderen ist die Schnittmenge erheblich. Bauern nämlich demonstrieren auf beiden Seiten, aus guten Gründen. Die einen sehen in einer grundlegenden Agrarwende für sich die einzige Zukunftschance.
Die anderen fordern von der agrarkritischen bis lebensmittelhysterischen Öffentlichkeit ein Minimum an Respekt dafür, dass in Europa die Versorgung der Verbraucher mit Lebensmitteln seit Jahrzehnten so sicher, so vielfältig, so preisgünstig und so hochwertig ist, wie man es noch vor einem halben Jahrhundert nicht für möglich halten konnte.
Daran ändern auch die immer wieder aufflackernden Lebensmittelskandale nichts, die in den allermeisten Fällen in der Substanz völlig belanglos sind. Nein, niemand geht das Risiko unfreiwilliger Selbstverstümmelung ein, wenn er sich aus Billigangeboten der Discounter ernährt.
Unbehagen an der «Agrarindustrie»
Nur weil wir satt sind, können wir es uns leisten, es satt zu haben. Es ist eben das Wort «satt», welches die beiden Protestparteien verbindet. Dass das nicht völlig bedeutungslos ist, sollte spätestens klar werden, wenn man sich die jüngsten Bilder aus der ausgehungerten syrischen Stadt Madaja in Erinnerung ruft.
Hunger als Kriegswaffe ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, sich satt essen zu können und in Frieden zu leben, seien Selbstverständlichkeiten.
Warum aber sind so viele Satte so unzufrieden mit der modernen Landwirtschaft? Wonach hungern sie? Es gibt zwei Hauptgründe, welche das Unbehagen an der «Agrarindustrie» mit ihrer «Massentierhaltung» und ihren «Monokulturen» befeuern.
Der eine liegt im Stofflichen, der andere im Ideellen. Das kommt daher, dass Landwirtschaft einerseits ein systematisch organisierter Stoffwechsel zum Zwecke der Nahrungsmittelerzeugung ist, andererseits aber eben auch Idee, Kultur, Lebensform, Sehnsucht und Ideal.
Es spricht viel für eine Agrarwende
Die Kritik an der stofflichen Seite industrieller Landwirtschaftsformen ist in vieler Hinsicht unabweisbar. Es mag sein, dass die «gute fachliche Praxis» bäuerlicher Landwirtschaft aus sich heraus nachhaltig ist, also etwa die Bodenfruchtbarkeit und die Artenvielfalt erhält.
Industrielle Schweineproduktion hat aus sich heraus aber kein Nachhaltigkeitspotenzial. Hier kann man die Schäden für Boden, Wasser und Luft nur so gut es geht begrenzen. Stofflich gesehen spricht sehr viel für eine ökologische Agrarwende, ja sie erscheint zwingend, wenn wir für die Zukunft unsere wichtigsten Ressourcen bewahren wollen.
Zum politisch-gesellschaftlichen Projekt wird die Agrarwende aber erst mit dem ideellen Überbau. Es gibt keine Debatte über Landwirtschaftsreform ohne Agrarromantik, was, wie gesagt, der Tatsache geschuldet ist, dass Bauern niemals nur etwas zum Essen, sondern immer auch etwas fürs Gemüt erzeugen.
Immer auch ein Verlust
In der zuweilen aufgeregten öffentlichen Debatte über die Landwirtschaft wird immer auch ein Verlust verhandelt. Noch in den 60er- und 70er-Jahren hatten in Deutschland die meisten wenigstens Grosseltern, die in irgend einer Weise landwirtschaftlich tätig waren.
Die Agrargesellschaft war zwar längst versunken, aber in den Köpfen existierte sie noch weiter, wenigstens in dem Sinne, dass man es für den «Normalfall» hielt, wenn jemand Bauer war. In die Fabrik ging, wer das nicht mehr sein konnte, ins Büro, wer das nicht mehr sein wollte.
Aber den Hof, auf dem gewirtschaftet wurde wie eh und je, das heisst mehr schlecht als recht, den gab es auch für die meisten städtischen Familien irgendwo noch.
Zwei Generationen später ist dieses Band völlig gekappt. Für die allermeisten ist Landwirtschaft eine fremde, ja exotische Welt. Eine Zeit lang schien es die Gesellschaft als Entlastung empfunden zu haben, sich um die Urproduktion keine Gedanken mehr machen zu müssen.
Man konsumierte fröhlich das immer vielfältiger werdende Angebot. Die Supermärkte wurden zu Schaufenstern europäischer Esskulturen. In den Budgets der Mittelschicht hörten die Ausgaben für Nahrungsmittel auf, die zentrale Rolle zu spielen. Essen wurde gemessen an den Einkommen immer billiger.
Vegetarier bleiben eine Minderheit
Etwa seit den 90er-Jahren traten die Kosten, die Schattenseiten dieser Entwicklung ins öffentliche Bewusstsein. Als Folge des Strukturwandels wurden Dörfer ohne Bauern erfahrbare Realität.
Katastrophen wie die BSE-Krise in der Rinderwirtschaft liessen die Landwirtschaft plötzlich nicht mehr als das scheinbar Einfache erscheinen, das doch jeder im Prinzip kennt, sondern als eine Welt der Finsternis, wo aus Profitgier und Verantwortungslosigkeit Frevel an der Schöpfung begangen wird, indem man Wiederkäuer via Tiermehl zu Leichenfressern macht.
Nicht dass sich nun nachhaltig das Verbraucherverhalten geändert hätte. Auch der Rindfleischverzehr kam wieder aus dem Keller. Die bewusstlose Freude am Überfluss stellte sich allerdings nicht mehr ein. Zumindest in der urbanen Mittelschicht gehört es seither zum Selbstverständnis und zum Lebensstil, sich bewusst zu ernähren.
Anders als die einschlägigen Aktivisten sich selbst und der Öffentlichkeit gern suggerieren, findet deshalb noch lange keine Massenbewegung in Richtung veganer oder vegetarischer Ernährung statt. Wie der neueste Ernährungsbericht bestätigt, bleibt der Fleischverzicht die Sache einer kleinen Minderheit.
Romantik ist niemals billig
Die Nachfrage nach Lebensmitteln aus ökologischer Erzeugung wächst zwar ständig, und Biobauern suchen im harten Konkurrenzkampf mit den Energiewirten verzweifelt nach Anbauflächen. Das bestätigt, dass die stoffliche Agrarwende auch von der Verbraucherseite her in Gang gekommen ist.
Als wirkliche Herzensangelegenheit dieser Verbraucher erscheint aber der Wunsch, sich mit Produkten aus der eigenen Region, aus der Nachbarschaft zu ernähren. Und damit ist der grosse Sehnsuchtshimmel über dem agrarischen Stoffumsatz geöffnet.
Man kann diesen Wunsch nach kurzen Wegen, nach persönlichem Vertrauen, nach Authentizität, nach Identifikation mit einer Landschaft, nach Heimat nicht als billige Romantik abtun, schon weil Romantik sowieso niemals billig ist.
Insbesondere in der Agrarromantik steckt eine Menge Zukunftspotenzial. Man muss sie nur aus ihrer Verkitschung auf Milchtüten und Joghurtbechern befreien. Dann wird der Bauer als Nachbar zur Zukunftsfigur.
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