Am 2. Februar 1835 trat Lord Thomas Babington Macaulay vor das britische Parlament, um von seiner jüngsten Reise zu berichten. Die folgenden Sätze sollen so oder so ähnlich von ihm gesagt worden sein. «Ich bin kreuz und quer durch Indien gefahren, und ich habe weit und breit keinen einzelnen Bettler oder Dieb gesehen – einen derartigen Wohlstand habe ich dort vorgefunden. Ich traf auf viele Menschen von einem so hohen moralischen Kaliber, sodass ich nicht glaube, dass wir dieses Land jemals werden erobern können, ohne ihm vorher das Rückgrat zu brechen – und das liegt in seinem spirituellen und kulturellen Erbe. Dafür, so schlage ich vor, sollten wir das traditionelle Bildungssystem austauschen und ihre Kultur ersetzen, um die Menschen dort in den Glauben zu führen, dass alles, was fremdartig und englisch ist, grösser erscheint als sie selbst. So werden sie ihr Selbstwertgefühl genauso verlieren wie ihre ursprüngliche Kultur und dadurch zu dem gedeihen, was wir von ihnen zu sein erwarten: eine wahrlich beherrschte Nation.»
Bis heute ist dieser Plan zu spüren
Über den exakten Wortlaut, den Ort und das Jahr dieser Verlautbarung wird seit vielen Jahren gestritten. Dennoch ging Macauleys grundsätzliche Haltung, indigene Kulturen ganz bewusst auszulöschen und gegen die Kultur der Kolonialisten zu ersetzen, als «Macaulayism» in die Geschichtsbücher ein. Dem in England als Schöngeist verehrten Cambridge-Studenten, Dichter, Juristen und späteren Regierungsmitglied Macaulay gelang es tatsächlich, in Indien «eine Klasse zu formen, die zwischen uns und den Millionen, die wir regieren, vermitteln soll, eine Klasse von Personen, indisch in Blut und Hautfarbe, aber englisch in Geschmack, Meinung, Moral und Intellekt.»
Die Konsequenzen der britischen Herrenmenschenmentalität bemerkt man bis heute. Indien ist ein zutiefst gespaltenes und von seinem wertvollen Erbe abgetrenntes Land mit gigantischen moralischen Abgründen. Die im negativen Sinne nachhaltigste Vernichtungsaktion der Briten war die Unterdrückung des Ayurveda, dem «Wissen vom Leben», dem also, das Macaulay als Rückgrat bezeichnet hatte. Heute lebt man in Indien nur in wenigen Winkeln rein ayurvedisch.
Eine Lebensphilosophie der Harmonie
Nun ist Ayurveda weit mehr als das, was in westlichen Ländern gemeinhin darunter verstanden wird, mehr als das Entschlackungsverfahren, für das sich längst auch betuchte Briten inzwischen in Indien Einläufe legen lassen. Ayurveda ist eine ganzheitliche und sehr praxisnahe Lebensphilosophie, die neben den Reinigungstechniken auch Pflanzenheilkunde, Ernährungslehre und das spirituelle Yoga beinhaltet. Sie geht davon aus, dass Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden und in Harmonie zueinander stehen müssen.
Sind die Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft und Äther, die im Kosmos wie im menschlichen Körper angenommen werden, durch unadäquate Lebensweise nicht in Balance, entstehen Krankheiten. Das Ayurveda soll die Selbstermächtigung des Individuums fördern und fordern, um langfristig ein körperlich gesundes Leben zu führen. Damit soll das Fundament dafür gelegt werden, bis ins hohe Alter Spiritualität praktizieren zu können.
Uralte Weisheiten
Die Stärke der schon viele Jahrtausende vor Christi Geburt angewendeten ayurvedischen Medizin liegt darin, den Lebenswandel auf ungesundes Verhalten hin zu untersuchen und individuell angepasste Nahrungs- und Bewusstseinskodizes zu vermitteln, um schwere Krankheiten zu vermeiden beziehungsweise zu therapieren.
Ayurvedische Ärzte verwenden dabei Techniken, die in der westlichen Schulmedizin zum Teil immer noch verpönt, jedoch alles andere als esoterische Alternativmedizin sind – wie Antlitz-, Iris-, Zungen-, Puls- und Urindiagnose und die Verabreichung ganz spezieller Kräutermischungen.
In Deutschland auf dem Vormarsch
Während das Ayurveda in Indien nach den historischen Kreuzzügen nur punktuell und zum Teil stark verändert und ergänzt angeboten wird, trifft man in Sri Lanka noch heute auf das Ayurveda in Reinform – und zwar in grosser Breite. Ist Sri Lanka doch das einzige Land der Erde, in dem Ayurveda im staatlichen Gesundheitssystem mit mehr als 16000 Ayurveda-Ärzten fest verankert ist.
Hoffnungsvoll jedoch ist, dass die Ayurveda-Forschung in Indien wie in Europa und speziell in Deutschland vorangetrieben wird. So lädt die Berliner Charité inzwischen jährlich zum AyurVision-Symposium, die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder richtete die erste Professur für Ayurveda in Europa ein, die Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin leitet den Aufbau eines Informations- und Referenzzentrum für Ayurveda.
Ayurveda ist keine Wellness-Behandlung
«Für ein wissensbasiertes Ayurveda des 21. Jahrhunderts gilt es, die wissenschaftliche Überprüfung nicht reduktionistisch anzugehen, sondern die therapeutische Komplexität in der wissenschaftlichen Überprüfung zu bewahren», sagt Dr. Christian S. Kessler von der Charité. «Ayurveda verfügt über stark individuumbezogene Therapieansätze, die im Sinne integrativer Herangehensweisen möglicherweise auch sinnvoll in westliche Gesundheitssysteme eingebaut werden könnten. Vor allem aber erscheint es wichtig, Ärzten hierzulande zu vermitteln, dass wirksame Ayurveda-Medizin nur sehr wenig mit der Wellness-Behandlung zu tun hat, die einem beim nächsten Hotelaufenthalt angeboten wird.» Und das AyurVision-Symposium 2014 kam zu der Quintessenz, dass das Ayurveda hierzulande gerade «den Übergang von der Pionier- in die Professionalisierungsphase» erlebe.
Studien belegen Nutzen von Ayurveda
Wobei über die Vorzüge des Ayurveda längst ausreichend Beweis geführt wurde. Um sich nun eine Gesellschaft vorzustellen, die komplett auf Ayurveda basiert und damit einen Gesundheitszustand einnimmt wie im Indien in der Zeit vor Lord Macaulay, braucht man nichts weiter zu tun, als sich einige der bisher vorliegenden weltweiten Ayurveda-Studien anzuschauen, wie das der österreichische Arzt Dr. Lothar Krenner getan hat:
Patienten, die komplett oder in Teilbereichen dem Ayurveda folgten, zeigten eine deutliche Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands (Energie, Vitalität, Widerstandsfähigkeit, Appetit, Verdauung, Schlaf), wurden weit weniger in Krankenhäuser eingewiesen, waren weniger psychisch labil, hatten weniger Angst, konnten besser mit Stress umgehen, konsumierten weniger Drogen, Alkohol, Nikotin und Koffein, konnten traumatische Erlebnisse besser aufarbeiten, bewiesen eine grössere Fähigkeit, Probleme zu lösen, waren kreativer und widerstandsfähiger gegen chemische Umweltgifte.
Für eine gesündere Gesellschaft sorgen
Und da eine ayurvedische Medizin ganzheitlich praktiziert und nicht reduktionistisch wie im Westen würde sie Krankheiten ganz anders therapieren als man es gewohnt ist. Kurz: Eine Gesellschaft des Ayurveda ist eine gesündere – psychisch, physisch, ethisch. Und diese Gesundung macht nicht etwa beim Einzelnen Halt. Sie reicht tief hinein in die Bereiche sozialen Zusammenlebens und hilft dabei, viele der egoistischen Rituale der Konsumgesellschaft aufzulösen.
So könnte das Ayurveda nicht nur als Anleitung zum Gesund- und Glücklichsein verstanden werden, sondern als Fundament für eine Welt, die unter dem Gebot der Nächstenliebe gedeiht.
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