Es drohe eine «vollständige Videoüberwachung des öffentlichen Raums», sagt Simon Hegelich. Der Dozent der Universität Siegen befürchtet, dass Privatpersonen jeden Winkel auf Plätzen, am Strand oder auf Strassenfesten mit ihren Kameras erfassen – und die Aufnahmen dann der Allgemeinheit zugänglich machen.

Hegelich bezieht sich nicht auf Rundumkameras, die zum Beispiel in London staatlich gesteuert Parkgaragen oder andere öffentliche Plätze überwachen. Der künftige Professor für Political Data Science an der TU München meint damit neue Modellreihen von 360-Grad-Kameras, die zu erschwinglichen Preisen angeboten werden und die auch Ungeübte für Rundumvideos einsetzen können.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Nur scheinbar gewöhnliche Kameras

Grosse Kamerahersteller wie Nikon, Ricoh und Kodak haben solche Modelle kürzlich vorgestellt. Dazu kommen Newcomer wie 360fly, und auch Actioncam-Produzent GoPro will eine 360-Grad-Version zu einem niedrigen Preis auf den Markt bringen.

Tückisch sind die Kameras, weil sie kaum als 360-Grad-Modelle zu erkennen sind. Nikons Keymission 360 zum Beispiel sieht aus wie ein gewöhnliches Modell, nur dass Linsen auf beiden Seiten des Corpus zu sehen sind.

Aufnehmen und später über Inhalt entscheiden

Die knapp 500 Euro teure 360cam von Giroptic wiegt nur 180 Gramm und lässt sich leicht am Hemd anbringen, die 360fly-Kamera gibt es sogar als Teil eines Helms. Unauffällig ist sie oben in die Schale integriert und kann von dort aus die gesamte Umgebung erfassen.

Den Objektiven entgeht nichts mehr, zumal die Nutzer einfach draufhalten werden, mutmasst Hegelich: «Mit ihrem Rundumblick verändern diese Kameras die Art, wie Filme aufgenommen werden. Es wird nicht mehr ein Objektiv gezielt auf einen Ausschnitt gerichtet, sondern die Kameras laden dazu ein, einfach alles auf einmal aufzuzeichnen. Der Nutzer kann dann später individuell entscheiden, welchen Ausschnitt er betrachten will.»

Und mit einem Klick landen die Aufnahmen per Bluetooth oder wie bei der Ricoh Theta S per WLAN auf dem Smartphone und von dort aus in den sozialen Netzwerken. YouTube und Facebook bieten sogar schon eigene Kanäle für 360-Grad-Videos an.

Pulsmessen via Video

Damit stehen sie jedem zur Verfügung und können per Software näher in Augenschein genommen werden. Programme für einen genauen Blick auf möglicherweise pikante Details gibt es schon. «Der jetzige Stand der Technik geht schon wesentlich weiter, als es den meisten Leuten bewusst sein dürfte», sagt Hegelich.

Gesichtserkennung «auch im grossen Stil» würde bereits funktionieren. Und die Kameras liefern dank der hohen Auflösung der Aufnahmen für die Bildanalyse die perfekten Vorlagen.

Nikons Keymission zum Beispiel zeichnet Videos in HD auf, die Giroptic-Kamera ist mit drei 185-Grad-Ultraweitwinkelobjektiven ausgestattet, und das Modell Vuze des israelischen Herstellers HumanEyes ist mit acht Objektiven bestückt, hinter denen jeweils ein Full-HD-Sensor arbeitet. Mit derart hoher Auflösung kann Software nicht nur besser als bisher Gesichter erkennen. «Es ist damit auch möglich, Biodaten wie den Puls einzelner Personen nachträglich aus den Videos zu erfassen», sagt Hegelich.

Kameras mit künstlicher Intelligenz

Das könnte durchaus verräterisch sein. Ist ein Mann auf einem Video zu sehen, der gerade eine Frau am Nebentisch beobachtet, liesse sich an seinem Puls seine Empfindung ihr gegenüber – und womöglich gar sein Erregungsniveau – ablesen. Das kann auch aus seinem Gesicht hervorgehen: Das von Apple gekaufte Unternehmen Emotient zum Beispiel entwickelt Software, um aus dem Gesichtsausdruck auf die Stimmung und emotionale Lage des Betrachters zu schliessen.

«Komplexere Algorithmen können Menschen zudem anhand ihrer Bewegungen identifizieren», sagt Hegelich. «Und es lässt sich auch bereits maschinell errechnen, welche Produkte in welchen Videos auftauchen.» Eine solche Software kann automatisch erfassen, an welchem Getränk jemand gerade nippt oder wo besonders viele 360-Grad-Kameras benutzt werden.

Grundlage für so viel künstliche Intelligenz ist maschinelles Lernen. Und das kommt verstärkt in den Kameras zum Einsatz. 360fly zum Beispiel verbindet es direkt mit der Kamera.

Technisch ist noch viel möglich

Die Firma hat zwei entsprechende Systeme entwickelt. «Eines kann den Fokus der Kamera in 360-Grad-Videos automatisch auf sich bewegende Personen richten. Das funktioniert auch, wenn die Kamera selbst in Bewegung ist, zum Beispiel während des Snowboardfahrens», sagt Hegelich. Ein weiteres System misst die relative Geschwindigkeit von Fahrzeugen hinter der Kamera, die in einem Motorradhelm integriert ist.

Bezogen auf künstliche Intelligenz in Kameras sei «in den nächsten Jahren mit immensen Entwicklungsschüben zu rechnen», so Hegelich. «Zumal Google und Facebook gerade die Schnittstellen zu ihren künstlichen Intelligenzsystemen für Entwickler geöffnet haben.» Googles Technik sei schon jetzt in der Lage, zu Bildern eine automatische Beschreibung zu liefern.

Ernsthafte Gefährdung für persönliches Recht

Mit dem in Deutschland geltenden Recht am eigenen Bild sind die ständigen Aufzeichnungen des öffentlichen Raums kaum zu vereinbaren. Dazu kommt noch die illegale Erhebung persönlicher Daten – wenn Gesichter identifiziert, Standortdaten von Personen ermittelt oder ihre Emotionen erfasst werden.

Hegelich sieht das Recht am eigenen Bild durch Rundumkameras mit künstlicher Intelligenz ernsthaft gefährdet: «Wenn Millionen Nutzer solche Techniken verwenden und diverse Konzerne weltweit diese öffentlichen Daten ganz selbstverständlich auswerten, verfeinern und kombinieren, laufen solche Gesetze einfach ins Leere.»

Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.