Nicht den Rhein meine ich, sondern die mäandernde Schlange aus vielen Menschen vor dem Museum Kunstpalast in Erwartung der «4 REAL AND TRUE 2» Ausstellungseröffnung von Wim Wenders. Miniaturen aus Merten-Figuren vor der machtstrotzenden Architekturfassade von Wilhelm Kreis gestreamt und dann im ungerschen Geometrieexzess wie Pixel geordnet. Wenders wird in diesem Kontext zu einer grossformatigen Analogerfahrung der besonderen Art.
Schon lange habe ich eine solche kontemplative Ruhe im digitalen Megapixelquirl der zeitgenössischen Fotografie nicht mehr erleben können. Unmittelbar am Eingang dann ein Bild armenischer Typografie, die irgendwie dem Untergang geweiht scheint und doch manifest in der Landschaft wartet - auf was, bleibt im Ungewissen. Gerade dieses Motiv, einem wirklich sehenswerten wenderschen Blick auf die Welt, ist für mich ein Sinnbild für die Verabschiedung einer manifesten Kommunikationsthese, die jenseits des Zitats noch neues zu finden glaubt.
Die gewinnbringenden homerschen Sirenen
Die Äquivalente der Ströme aus digital zitierten Bildinformationen in der Fotografie sind schon längst in den herren- und endlos skalierbaren PDF- und EPS-Archiven der Designrealität angelandet und stampfen das bürgerlich-dominierte Geniebild aus Originalität und Erfindungsgeist in Grund und Boden. Das einsame sich treibenlassen in der Vielfalt des Experiments lockt zudem immer weniger die Geldrolle aus der Tasche eines Designinteressierten. Name-Server sind vielmehr die gewinnbringenden homerschen Sirenen an den Design-Gestaden unserer ökonomisierten Welt geworden und haben Scharen von Streamline-Gestaltern mit tonnenweise Gel in den Haaren und schwarzen Extrem-Rollkragenpullis auf ihre Zitat-Insel ohne Wiederkehr gelockt.
Dass dieser opportunistische MAD MEN Designer-Typ an der Kreide-Tertiär-Grenze der New Economy damit ausgestorben ist kann man zwar als positiven Effekt der lamarckschen Evolutionstheorie betrachten, aber trotzdem bleibt das Design sich selbst eine alternative Perspektive schuldig. Aus meiner Sicht geht es aber gerade jetzt um das Ganze - der Gestalter der Zukunft wird wohl zu einer Art Sarah Connor (die Protagonistin aus Terminator) des gesellschaftlichen Diskurses mutieren müssen, um das Grossvaterparadoxon durch ein Domainparadoxon ersetzen zu können.
Freilich es gibt bereits zaghafte Versuche, aus einer Art moderiertem Design-Streaming gesellschaftlich relevante und ästhetische Positionen zu entwickeln: Der Sagmeisterschüler Manuel Bürger versucht das mit seiner These der slippery Designs, Laucke Siebein mit einer wie postmodernen aber doch moderierten Typografie oder Kesselskramer mit der Wut des ironisierten ästhetischen Zitats. Dagegen steht jedoch eine Übermacht - eine Art Digital-kollektiver-Komplex.
Jüngstes und aktuellstes Beispiel eines Datencyborgs
Jüngstes und aktuellstes Beispiel eines Datencyborgs aus dieser industriellen Designsphäre ist die Applewatch, das «persönlichste Produkt das apple je entwickelt hat» - ein minimalisierter Archetyp des Wettstreits zwischen Datenorientierung und ästhetischer Positionierung. Zugegebenermassen wird hier in einer formal gelungener Verpackung aus Marc Newson und Jonathan Ives ein Gateway geschaffen, das uns nicht näher kommen könnte, aber bei Apple bedeutet Nähe nichts anderes als eine digitale Version dieses willfährig dienenden und nickenden Wackel-Dackel auf der Hutablage.
Um genau diese Pseudo-Nähe ging es auch, als ich im Kontext der zutiefst analogen Ausstellung von Wenders, mit fast schon komatöser Entschleunigung gesegnet, auf einen bekannten Berliner App-Entwickler traf, der mir von der zukünftigen Relevanz dieses Apple-Produktes vorschwärmte. Die Melange aus dem Anklopfen am Handgelenk und der einzigen Interfacebewegung, die es dann noch gäbe, nämlich das Kippen der Hand, erachtete er als Anbeginn eines goldenen Zeitalters des Dauermonitorings und gestaltungslosen Feelgood-Interfaces.
Diese Form der AI am Handgelenk wäre darauf ausgelegt schon im vorhinein zu wissen, was der Träger dieses Accessoirs denn zu einem bestimmten Zeitpunkt wolle - datenbasierte Sensorik direkt am Mensch statt inhaltlichem oder gestalterischem Diskurs - diese virtuos vorgetragene Vision des Programmierers endete mit einer flammenden Rede wider den archaischen «Back Button» als Reset-Taste in die Vergangenheit. Mir wurde schlagartig klar: Der Mad Men Opportunist ist zwar ausgestorben, aber der entpersonalisierte Datenopportunist, eine programmierte digitale Streicheleinheit für den Dienstleistungsnomaden, wird gerade von den Programmierern dieser Welt in den Uterus der Smartwatch hineingeboren. Design steht aber einer programmierten, allgegenwärtigen und dienenden Funktion entgegen. Gestaltung bedeutet Diskurs und die Arbeit, sich mit der jeweiligen Visualisierung und Interpretation des anderen auseinanderzusetzen.
Die gestreamte Dateneinheit jedoch will keine Hindernisse im Flusslauf, sie will den Weg des geringsten Widerstandes gehen und in das Meer eines kollektiven Konsenses einfliessen. Das mag organisch wirken, aber der Mensch ist nun mal ein denkendes Wesen das Gestaltung, Diskurs und die Form für die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz braucht. Apples «Digital Crown» wird also hoffentlich nicht zur Krone der Schöpfung werden. Wohl eher, ganz archaisch und analog, eine Vielzahl von neuen gestalterischen Positionen, die zwischen dem Individuum und dem Kollektiv moderieren können. Also, auf zu den neuen/alten sirenenfreien Ufern!
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