Einer der Grundsätze des seligen Alfred Hitchcock war, seinen unvermeidlichen Gastauftritt in die ersten Filmminuten zu legen, damit sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Handlung konzentrieren konnte. Daran hält sich auch Tom Cruise in «Mission Impossible – Rogue Nation». Die viel gehypte Sequenz, in der er an der Aussenseite eines startenden Flugzeugs hängt, bis die Erde unter ihm ganz klein wird, ist sozusagen der Appetithappen für die folgenden zwei Stunden. Der Unterschied zu Hitch besteht darin, dass der Happen hier keine Fussnote ist, sondern Programm.
Ein Programm so alt wie der Action-Film selbst: rennen, springen, hechten, klettern, schlagen, geschlagen werden, fallen, wieder aufstehen. Hilfsmittel wie Flugzeuge, Motorräder, Zielfernrohre, Wasserzentrifugen und BMWs sind erlaubt, ultramoderne Elektronik wird so selbstverständlich wie ein Tauchsieder eingesetzt – und doch ist letztlich der Mensch das Mass aller Dinge. Der Mensch, so die tröstliche Botschaft, hat noch alles im Griff, auch wenn er in Minsk an Flugzeugen herumhängen, vom Dach der Wiener Staatsoper herabspringen und mit seinem Mittelklassewagen die engen Gassen des Souk von Casablanca durchrasen muss. Sogar rückwärts und der Sicht beraubt.
Dank an die Alpenrepublik
Tom Cruise hat im vorhergegangenen «Mission Impossible»-Teil den Kreml in Schutt und Asche gelegt, wogegen die US-Regierung zwar grundsätzlich nichts einzuwenden hat, aber trotzdem zerknirscht tun muss; deshalb soll die Abteilung aufgelöst und der flüchtige Ethan Hunt eingefangen werden. Mit der gleichen Beiläufigkeit wird in «Rogue Nation» der österreichische Bundeskanzler in die Luft gesprengt; so belohnt Hollywood die Alpenrepublik dafür, dass die Dreharbeiten uneingeschränkten Gebrauch von einem Wiener Heiligtum, der Staatsoper, machen durften.
Wir fragen uns, mit welchem Gefühl der reale Kanzler Faymann die Oper nach der Weltpremiere des Films vor einer Woche verlassen hat. Deutlich respektvoller wird mit dem britischen Premier umgegangen, den lediglich ein Betäubungspfeil trifft. MI5, die interne Abkürzung für den fünften Teil von «Mission Impossible», ist rein zufällig auch das Kürzel für den britischen Inlandsgeheimdienst.
Fünf «Unmögliche Missionen» gibt es inzwischen, sie sind stilistisch ziemlich uneinheitlich (was nur deshalb nicht auffällt, weil sie in Fünf-Jahres-Abständen auf den Markt kommen), und sie hatten immer ihre Mühe, sich von James Bond abzugrenzen – und seit Neustem auch von Jack Reacher, einem weiteren Action-Klon.
Der kleine Tom und ein Pfund von einer Frau
Der einzige rote Faden, der sich nun in «Rogue Nation» deutlicher herausschält als zuvor, ist der Gegensatz Mensch versus Maschine. Unser Alltag liefert jeden Tag mehr Anzeichen, dass dieser Planet von Rechnern übernommen wird – vom Drohnenkrieg mit seiner automatisierten Feinderkennung bis zu Googles Programm «Deep Dream», das täuschend echt Kunst simuliert –, doch diese Serie hält unerschütterlich an der Überlegenheit der menschlichen Spezies fest. Allein dafür gebührt ihr unser aller Dank.
Dazu bedarf sie allerdings eines Superexemplars wie Ethan Hunt. «Rogue Nation» treibt die Kanonisierung seines Helden massiv voran. Wir sind nicht nur aufgefordert, Cruises Mut am Airbus zu bewundern (durchaus zurecht, auch wenn Sicherungsseile wegretuschiert wurden), sondern auch seinen Waschbrettbauch im Folterkeller. Er ist unzerstörbar, aber nicht wie der Terminator, sondern wie ein einsamer Wolf, der zum Wohl der Mitmenschheit auf emotionale und soziale Bindungen verzichtet.
«Rogue Nation» hielte ja durchaus ein Angebot für ihn bereit, die Schwedin Rebecca Ferguson, ein Pfund von einer Frau, kein Betthase, keine Magnum-Fuchtlerin, sondern ein erwachsenes, unabhängiges Weib. Es ist auffällig, wie viel Raum Cruise ihr einräumt, wie viel Raum er Emily Blunt in «Edge of Tomorrow» eingeräumt hat, wie dominierend Charlize Theron neben Tom Hardys «Mad Max» war; vielleicht ändert sich wirklich das Frauenbild im Action-Film.
Die Heiligsprechung des Ethan Hunt ist in vollem Gange
Vielleicht ist es aber nur ein Sich-rar-Machen, das bekanntlich Legendenbildung fördert. In «Rogue Nation» gehen bereits – mitten im Film! – Fanboys und -girls dazu über, von der «Legende» Ethan Hunt zu schwärmen. «Es sind wirklich Sie!», schwallt eine Verkäuferin bei seinem Anblick. «Ich habe Geschichten gehört... sie können nicht alle stimmen!» Auch Alec Baldwins CIA-Chef lobhudelt, aber etwas pseudointellektueller: «Hunt ist die lebendige Inkarnation der Vorsehung!»
Die Heiligsprechung des Ethan Hunt ist also in vollem Gange, und sie ist so untrennbar mit dem Charme und der Willensstärke des Tom Cruise verbunden, dass man sich fragen muss, was bis zu seinem nächsten Auftritt geschehen soll. Der wird nicht kommen, bevor Cruise die 60 in Sicht hat, und ewig kann er seine Stuntleute nicht arbeitslos machen.
Mit Jeremy Renner steht offensichtlich der designierte Nachfolger schon neben ihm in den Startlöchern – und vielleicht ist ja ein stufenweiser Rückzug geplant, wie der von Sylvester Stallone aus den «Expandables». Aber Renner könnte nie schlechte Filme erträglich und mittelprächtige (wie diesen) vergnüglich machen, was Cruise immer noch vermag.
Erwartungslatte bei einer Milliarde Dollar
Es gilt, eine extrem wertvolle Marke zu erhalten und strategische Geschäftsinteressen zu wahren: Nicht umsonst sind die ersten Namen im Vorspann die von China Movie Channel (dem staatlichen Filmkanal) und von Alibaba Pictures (der Filmtochter der chinesischen Version von Amazon). Die Erwartungslatte liegt diesmal bei einer Milliarde; der letzte Teil hatte weltweit 700 Millionen Dollar eingespielt.
«Inkarnation der Vorsehung!» Wer weiss, vielleicht kommt der Satz sogar in «Turandot» vor, die in der Staatsoper aufgeführt wird, während Tom Cruise und gleich zwei Attentäter auf dem Schnürboden umherturnen. Es ist die beste Szene, weil die Spannung nicht von kreischenden Reifen oder blinkenden Superwaffen herrührt, sondern aus der Ungewissheit des Dreiecks: Wer bemerkt wen? Wer zielt auf wen? Wer trifft wen? Man denkt an den Dreier-Shootout von Leones «Zwei glorreiche Halunken» und erinnert sich an Hitchcocks «Der Mann, der zu viel wusste», wo der Attentäter in der Albert Hall auf den Beckenschlag wartet, um den Premierminister unbemerkt zu erschiessen.
Hier wartet er auf das triumphale «Vincerò! Vincerò!» im «Nessun Dorma», und Cruise und seinem Autor und Regisseur Christopher McQuarrie gelingt eine wirklich überraschende Auflösung. Überhaupt sind es die Zweier- und Dreierkonfrontationen, die am spannendsten verlaufen, unerwarteter als die meisten Action-Sequenzen, die oft Gesehenes variieren, wenn auch auf hohem Niveau.
«Rogue Nation» hat einen ansehnlichen Schurken, was bei der anhaltenden Schurkenmisere des Kinos etwas heissen will. Sean Harris spielt einen Ex-Geheimagenten, der das «Syndikat» gegründet hat, um die verdorbene Welt mittels Terror zur Umkehr zu zwingen, eine Art westlicher IS. Die Parallele zwischen den Bösen (frühere Agenten des englischen Secret Service) und den Guten (frühere Mitarbeiter der CIA), die sich beide selbstständig gemacht haben und jeder Kontrolle ihrer Konzernmütter entziehen, ist unübersehbar.
Die IMF ist nicht der IMF
Ein Ausschuss des amerikanischen Parlaments macht sich übrigens bei dem Versuch, Cruises Buben einzuhegen, ähnlich lächerlich wie der Untersuchungsausschuss des Bundestages bei seinen Versuchen, die NSA-Spionage aufzuklären. Glücklich die Demokratie, die einen Ethan Hunt hat, der sie rettet.
Cruises Weltenretter gehören zur Impossible Missions Force (IMF), die keinesfalls mit dem International Monetary Fund zu verwechseln ist, ebenfalls kurz IMF. Anscheinend haben noch keine Anwälte darum prozessiert, wer der rechtmässige Inhaber dieser Abkürzung ist; im Zweifel würde der 1945 gegründete Internationale Währungsfonds gewinnen, denn der geheimdienstliche IMF wurde erstmals 1966 aktiv, in der «Kobra, übernehmen Sie»-Fernsehserie.
Und wenn wir schon bei Rechtefragen sind, wird hiermit Titelschutz für «IMF gegen IMF» angemeldet, eine mögliche sechste Folge von «Mission Impossible», in der Tom Cruise im Auftrag des griechischen Volkes den Kampf gegen das Spardiktat führen könnte, mit Christine Lagarde als eleganter Schurkin, und natürlich mit einem kompletten Sieg des Davids gegen Goliath. Da läge doch mal echter Sprengstoff drin. Vorschläge für die Besetzung der einschlägigen Rollen (Tsipras, Merkel, Varoufakis, Schäuble etc.) werden ab sofort entgegengenommen.
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