Ich befinde mich in einem grossen Raum mit vielen anderen Menschen. Plötzlich schrillt ein akustisches Signal. Vor ein paar Tagen sass ich im Grossraumbüro, und auch dort ertönte ein Warnsignal, diskreter und weniger alarmistisch allerdings. «Das ist nur der Mac, der überhitzt», hatte ein Kollege gerufen, und ein anderer hatte den Stecker gezogen, und das war's gewesen, zum Glück, man ist ja doch etwas nervös dieser Tage.
Aber dieses Signal ist hartnäckiger. Ich blicke um mich und sehe, wie die Leute das Headset herunterzerren und Reissaus nehmen; binnen Sekunden bin ich allein. Das ist beunruhigend. Nun ziehe auch ich Hörer und Brille vom Kopf – und sehe um mich herum all die anderen, und sie tragen immer noch ihre Kopfgarnitur. Nichts passiert, in Wirklichkeit.
Mit der Datenbrille in eine andere Wirklichkeit eintauchen
Das ist erklärungsbedürftig. Der Raum, das ist ein Grosscontainer, einer von 34 über- und nebeneinandergestapelten Überseebehältern, die zusammen die Platoon Kunsthalle ergeben, eine Berliner Event-Location am Prenzlauer Berg, wo sonst. In dem Raum stehen drei Dutzend Plastikstühle, Drehstühle, was sich als wichtig erweisen wird. Darauf liegen Kopfhörer und eine Datenbrille.
Der Zeremonienmeister ermutigt uns, beides aufzusetzen, eine Assistentin geht durch die Reihen und macht uns auf ein Stellrädchen aufmerksam, «zum Scharfstellen, bis zu sieben Dioptrien». Sie fragt, welche Option ich bevorzuge: das Flüchtlingslager oder den Horrorfilm. Ich optiere für Horror. Wir stehen kurz vor der ersten öffentlichen, kommerziellen Virtual-Reality-Vorführung in der Hauptstadt.
Meilenstein ohne Zeremonie
Es geht informell zu, ein wenig schludrig. Gemessen an dem Einschnitt, den der Abend bedeuten könnte, fehlt ihm jegliches Bewusstsein seiner historischen Bedeutung. Ich frage mich, wie das vor 120 Jahren gewesen sein mag, fünf Kilometer Luftlinie entfernt, im Wintergarten, als die erste Filmvorführung der Welt vor zahlendem Publikum eine neue Ära einläutete.
In Anzeigen war das Bioscop von Max Skladanowsky damals als «interessanteste Erfindung der Neuzeit» angekündigt worden. Nun verspricht das Internet: «Das erste Virtual-Reality-Kino der Welt kommt nach Deutschland!» Wir sollen an diesem epochalen Tag vier kurze Filme zu sehen bekommen. Am 1. November 1895 waren es acht, darunter «Das boxende Känguruh».
96 Grad neue Realität
Ich setze die Brille auf, die von Samsung stammt und ebenso auf der Technologie einer Firma namens Oculus beruht wie die Oculus Rift, die Facebook im Frühjahr herausbringen will. Sie hat ein verstellbares Band, das um den Schädel gelegt wird, und einen Überkopfbügel. Mein Gesichtsfeld ist weitgehend, aber nicht völlig von einem dunkel flimmernden Bildschirm ausgefüllt, dessen Form an alte Rennfahrerbrillen erinnert.
Die neue Realität endet bei jeweils 96 von 360 Grad, laut Herstellerangaben etwas weniger, als wir in unserer Augensicht haben. Leicht enttäuschend für einen, der sich im Kino so weit nach vorn setzt, dass er die Ränder der Leinwand nicht mehr sieht, geschweige denn die beleuchteten Notausgangzeichen. Wenn schon künstliche Realität, dann bitte ganz.
Was hinter dem Rücken passiert
Aus dem Dunkelflimmern formt sich ein Bild. Es sieht wie ein Flüchtlingslager aus. Hatte ich mich nicht für den Horror gemeldet? Egal. Ich sehe ein Mädchen, das sich als Sidra vorstellt und durch das Lager führt, in die Schule, zu den kampfboxenden Jungen (die boxenden Kängurus von heute) und zu den anderen Mädchen, die hier Fussball spielen dürfen.
Wir befinden uns jetzt in Zaatari, dem Lager in Jordanien, das zehnmal so viele Syrer beherbergt, wie sich die deutschen Planer für ihre grössten «Flüchtlingszentren» ausmalen, und es sieht adrett aus, ja: aufgeräumt, sauber, organisiert. Ich beginne, mich auf dem Stuhl zu drehen, um zu entdecken, ob die Mädchen hinter meinem Rücken Hasenohren machen, aber nein, sie versammeln sich brav um den Fussball.
Lästige Realität drängt sich auf
Ich vollende meine erste Selbstumkreisung. Könnte ich auch aufstehen, um den Ball wegzukicken? Der Versuch ist nicht ratsam, denn es existiert ja noch diese lästige Realität des Prenzlauer Bergs: Wenn ich wie ein blindes Huhn mit Brille umherlaufe, stolpere ich in kürzester Zeit über die anderen Virtualiten. Der Versuch wäre auch unsinnig, schliesslich sehe ich einen Film: Die Rundum-Kamera im Flüchtlingslager hat sich ja auch nicht bewegt. Auch sie weiss nicht, was sich jenseits dieser Halle, jenseits dieses Zauns befindet.
Virtual Reality, lautet meine erste Lektion, ist nicht die totale Befreiung. Es ist eine vorfabrizierte Welt mit engen Grenzen, die sofort erlischt, wenn die Verbindung zum Server abbricht, die von einem in die Brille gestöpselten Handy zusammengehalten wird. Ich kann meinen Blick zwar schweifen lassen, aber nur in den vom Regisseur definierten Räumen.
Wenig Spannung abseits der Handlung
Im zweiten Film ist dies eine leere Wohnung, wo ein Mann sich an einen Streit mit seiner Freundin erinnert. Die Erinnerung überkommt ihn in kurzen Blitzen, und das ist gewöhnungsbedürftig, muss das Gehirn nun doch schon zwei Bewegungen verarbeiten, mein eigenes sanftes Rotieren und die Sprünge in die Vergangenheit und zurück.
Ausserdem beginne ich mich zu fragen, ob ich überhaupt rotieren soll. Die Streitenden laufen ja nicht ständig um mich herum, sie treten mehr oder minder auf der Stelle. Warum sollte ich meinen Blick stattdessen auf die Blumenvase hinter mir schweifen lassen? Die berühmte Kamera von Michael Ballhaus, die Kreise um ihre Figuren fährt, hat immer was zu sehen. Aber umgekehrt?
Theaterregisseure im Vorteil
Regisseure, könnte man denken, werden in der Virtual Reality überflüssig, wird doch ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit demokratisiert: Nicht sie lenken wie bisher unsere Blicke, wir selbst tun das. Ich zwinge mich dazu, auf die Blumenvase zu starren, während eine halbe Drehung hinter mir der Streit eskaliert, kehre aber unwillkürlich dahin zurück.
Wie wird in Zukunft Blicklenkung funktionieren? Werden wir das so erlernen, wie das Publikum vor hundert Jahren erst begreifen musste, dass ein Schnitt eine zeitliche oder räumliche Veränderung bedeutet? Der freundliche Herr von &samhoud, der niederländischen Firma, die in Deutschland für das virtuelle Gucken missioniert, hat mir vorher gesagt, er halte Theaterregisseure besser für VR geeignet als die vom Film – und jetzt verstehe ich, was er meint. Kinoleute besitzen ein Arsenal an Tricks zur Blicklenkung: Kamerabewegungen, Schnitte, Grossaufnahmen. Der Theatermann jedoch findet sich in der gleichen Lage wie der VR-Inszenator: Sein Zuschauer hat die Wahl, wohin auf der Bühne er sieht, und muss durch subtile Signale eingefangen werden.
Verschiedene Realitätsebenen
Virtual Reality heute ist, wie das Kino in seinen Kinderschuhen, wenig subtil. Im dritten Film stehen wir auf dem Dach des Hochhauses des Berliner Verlags. Mein erster Impuls besteht im Herunterschauen, da schiebt sich ein Raumschiff von der Grösse des Millennium-Falken über den Alexanderplatz, ich wende den Blick natürlich nach oben.
Danach passiert die Sache mit dem Alarm. Es ist ein Pausenfüller, eine kleine Erinnerung daran, dass hier mit Realitätsebenen gespielt wird – und nicht alle so harmlos sein werden. Drei Monate nach Skladanowsky im Wintergarten zeigten die Brüder Lumière im Grand Café zu Paris den Ein-Minuten-Film «Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat», und – so will es die urbane Legende – die Zuschauer stoben panisch auseinander, als der Zug auf der Leinwand geradewegs auf die Kamera und also auf sie zudampfte.
Der «Zug» der virtuellen Realität heisst «Catatonic». Ich finde mich in einem Rollstuhl, der durch die Gänge eines Irrenhauses fährt, und ich kann nach unten auf meine festgeschnallten Arme sehen oder nach hinten auf den Wärter, der mich schiebt, oder nach links und rechts auf die Insassen, die dem Neuankömmling ihre Fratzen ins Blickfeld stossen.
Gemischte Gefühle bei der Rückkehr in die Wirklichkeit
Meine Datenbrille vermittelt mir drei Bewegungen auf einmal: eine horizontale und eine vertikale (per Rollstuhl) sowie eine kreisende (durch mein Kopfdrehen). Eigentlich ist das nicht anders, als wenn ich im Auto einen Berg hochfahren und mich dabei umsehen würde, aber dazu gesellt sich der Bahnhofseffekt: Wie oft haben wir aus dem Fenster eines stehenden Zuges hinausgesehen und geglaubt, er habe sich in Bewegung gesetzt – obwohl nur der Zug auf dem Nebengleis anfuhr. Das getäuschte Auge wird schnell durch den Körper korrigiert, der uns sagt, dass wir uns noch im Ruhezustand befinden.
Dasselbe sagt mir mein Körper bei der virtuellen Fahrt durchs Irrenhaus, nur das Auge suggeriert eine Bewegung in drei Dimensionen, wie bei einem dieser Dreh-Hebe-Karussells auf dem Jahrmarkt. Das vertrage ich auch nicht mehr so gut wie früher mal, und ich bin froh, als das Phantasma der Klapsmühle vor mir erlischt.
Es ist vorbei. Ich ziehe Brille und Hörer vom Kopf. Auch meine Nachbarin sieht etwas bleich aus, glaube ich zu bemerken. Nach Sprechen ist uns zunächst nicht zumute. Dies war kein Gemeinschafts-, sondern ein Vereinzelungserlebnis, eine Versuchsanordnung wie im Kino mit einem Effekt wie vor dem Heimcomputer. Drei Dutzend Menschen in einem Raum, die dasselbe gesehen haben, dabei aber allein waren.
Die Möglichkeiten sind unermesslich
Ich nehme an, dass es über kurz oder lang möglich sein wird, sich in der virtuellen Realität eines Mitspielers zu bewegen, dieser Abend ist ja nur ein Anfang; bald werden wir zusätzlich einen Datenhandschuh anziehen, die Auflösung wird sich verbessern, und man wird die Nähte nicht mehr bemerken, aus denen sich das Rundumbild zusammen setzt.
Aber ich denke, ich habe begriffen, wo die Trennlinie der Zukunft verlaufen wird. Nicht zwischen zweidimensional oder 3-D oder künstlicher Realität. Die Wahl wird diese sein: Vertraue ich mich der erzählerischen Raffinesse eines Geschichtenerfinders an – oder will ich an jeder Abzweigung selbstständig den Weg wählen?
Wahrscheinlich wird es auch einen Mittelweg geben, eine im Kinostil durcherzählte Geschichte, die man aber zwischendurch anhalten kann, etwa um eine gründliche Inspektion des Millennium-Falken vorzunehmen. Was mich aber so was von gar nicht interessieren würde. Eher schon eine Umrundung von Léa Seydoux, wenn sie in «Spectre» zum Dinner mit Daniel Craig erscheint.
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