Ein angesehener deutscher Journalist, Korrespondent einer grossen Tageszeitung, meinte kürzlich in einer Talkrunde, das Parlament würde ein ehrlicherer Spiegel der deutschen Gesellschaft sein, wenn die AfD in den Bundestag einzieht. Wäre es Aufgabe des Parlaments, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, dann müsste man die Ergebnisse dieser Wahl begrüssen.

Allein, das ist nicht Aufgabe des Parlaments. Wollte man die gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden, so könnte man auf der Grundlage statistischer Erhebungen und mit dem Losverfahren eine repräsentative Versammlung einberufen. Eines ist sicher: Sie enthielte viel weniger beurlaubte Beamte und Berufspolitiker als der Bundestag, sehr viel weniger Mitglieder politischer Parteien, mehr Frauen und viel mehr Bürger mit Migrationshintergrund, einige Kinder und viele Rentner, eine Handvoll Kleinunternehmer und Manager sowie einen grossen Block mit Menschen, die hier zwar leben, aber nicht wählen dürfen, und einen noch grösseren mit Menschen, die zwar wählen dürfen, es aber nicht wollen.

Es spricht übrigens nichts dagegen, solche Versammlungen einzuberufen und ihr Votum zu wichtigen Fragen einzuholen. Eine deliberative Volksversammlung aus Nichtberufspolitikern, die nach Anhörung von Experten ihr Votum zu anstehenden Entscheidungen abgibt, wäre eine interessante Ergänzung des Parlaments – und hätte eine grössere Legitimation als die von Populisten geforderten Volksentscheide, bei denen oft Bürger aus dem Bauch heraus Entscheidungen treffen, die sie selbst auf Jahrzehnte binden, auch wenn sie inzwischen ihre Meinung geändert haben und ihre Entscheidung bereuen. Man denke an das Brexit-Desaster.

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Die Aufgaben des Parlamentes

Das Parlament jedoch ist keine Volksversammlung und hat nicht die Aufgabe, die Strömungen im Volk getreulich abzubilden. Im Gegenteil. Die Aufgabe des Parlaments besteht darin, Gesetze zu machen und die Regierung bei deren Umsetzung zu kontrollieren; Steuern zu beschliessen und dafür zu sorgen, dass die Regierung mit dem eingetriebenen Geld sorgsam umgeht.

Dazu gehören nicht nur Sachkenntnis und Verantwortungsgefühl, sondern gelegentlich auch die Bereitschaft, Dinge zu beschliessen, für die man nicht gewählt wurde. Der spätere US-Präsident John F. Kennedy schrieb ein Buch über Parlamentarier, die sich für das einsetzten, was ihnen ihr politisches Gewissen diktierte, auch wenn es das Ende ihrer politischen Karriere bedeutete. Es heisst «Zivilcourage».

Die Abgeordneten der SPD bewiesen Zivilcourage, als sie aus Verantwortung für Deutschland Gerhard Schröders Agenda 2010 zustimmten, obwohl das den Aufstieg der populistischen Linkspartei begünstigte und so manchen Hinterbänkler um den Parlamentssitz brachte.
 
Die Abgeordneten der Union bewiesen Zivilcourage, als sie aus Verantwortung für Europa Angela Merkels Flüchtlingspolitik unterstützten, obwohl das den Aufstieg der populistischen AfD begünstigte und ihnen bei Versammlungen im heimischen Wahlkreis oft Unverständnis und Wut entgegenschlug.

Das Richtige ist selten populär

Wohlgemerkt: Agenda 2010 und Grenzöffnung bleiben umstritten. Vielleicht waren sie Fehler. Aber nicht, weil sie unpopulär waren. Das Richtige ist selten populär, weshalb Populisten selten das Richtige fordern und noch seltener tun. Donald Trump lässt grüssen.

Apropos Trump: An ihm wird deutlich, weshalb die Väter der amerikanischen Verfassung den Kongress – Abgeordnetenhaus und Senat – so konzipierten, dass er nicht einfach die Stimmungen des Volkes abbildet. Nur der Präsident der USA ist von allen Wahlberechtigten gewählt, nur er hat ein Mandat der ganzen Nation; jeder Abgeordnete und Senator hingegen vertritt nur einen Teil der Nation – seinen Wahlkreis oder Bundesstaat.

Dennoch kann der Kongress den Präsidenten daran hindern, seine Wahlversprechen umzusetzen. Und das ist gut so. Demokratie, so heisst es in der Schule, bedeute Volksherrschaft. Wäre dem so, sie wäre unerträglich. Rechtsstaatliche Demokratie heisst vielmehr: Schutz der Minderheiten und ihrer Freiheiten vor der Diktatur der Mehrheit.

Parlamentarische Demokratie heisst darüber hinaus: Offenhaltung der Zukunft. Was heute richtig ist, kann sich morgen als falsch erweisen und muss rückgängig gemacht werden können. Deshalb sind Volksentscheide undemokratisch, denn sie sollen ja «ein für alle Male» Dinge entscheiden, die oft mal so, mal so entschieden werden sollen und können.

Wahlen sind Volksentscheid alle vier Jahre

Es gibt eine Ausnahme – den Volksentscheid, der alle vier Jahre stattfindet und bei dem alles zur Disposition steht: Parlament, Regierung, Gesetze, sogar die Verfassung selbst. Die Nation, sagte Ernest Renan 1862, sei ein «tägliches Plebiszit», womit er meinte, dass sie – anders als völkische Ideologen meinen – weder durch Blut und Boden noch durch Kultur und Religion zusammengehalten werde, sondern durch den Willen der Bürger, gemeinsam ihre Angelegenheiten zu regeln. Alle vier Jahre wird dieses Plebiszit Ereignis.

Die gewählten Vertreter müssen ja nicht sein wie man selbst, ja sollen es nicht sein. Sie sollen sich hineinknien in die Details von Steuermodellen und Rentengesetzen, Cybersicherheit und Wehrtechnik, Klimawandel und Einwanderungspolitik, während unsereiner oft Mühe hat, einem Ausländer die Struktur des deutschen Gesundheitswesens, das Verhältnis von Bund und Ländern in der Bildungspolitik, das Ehegatten-Splitting oder den Inhalt des Rundfunkstaatsvertrags zu erklären, geschweige denn die Zuständigkeiten in der Europäischen Union.

AfD ist antiparlamentarische Opposition

Wir delegieren das Kopfzerbrechen, die Auseinandersetzung und die Kompromissfindung an Politik-Generalisten. Das ist Demokratie. Leider sind im deutschen Parlament seit der jüngsten Wahl Leute vertreten, die – Björn Höcke hat das Betriebsgeheimnis der AfD ausgeplaudert – Fundamentalopposition betreiben wollen, wozu weder Kopfzerbrechen noch ernste Auseinandersetzung noch erst recht Kompromissfindung nötig sind.

Erst wenn sie eine absolute Mehrheit hätten, so Höcke weiter, wollten die Rechtspopulisten auch regieren. Bildeten sie bisher auf Bundesebene eine ausserparlamentarische Opposition, so bilden sie mit dieser Haltung nun im Bundestag eine antiparlamentarische Opposition – zusammen mit der Linkspartei, die sich bisher jedenfalls weigert, Positionen zu räumen, die ihre Regierungsbeteiligung ausschliessen.

Gewiss ist der Bundestag jetzt politisch, wenn auch nicht sozial, repräsentativer als zuvor. Gewonnen hat die Demokratie dadurch nicht. Im Gegenteil, so paradox das klingt.

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