Auffallend oft ist bei der deutschen Berichterstattung die Sprache des Klassenzimmers benutzt worden. Genauer: der altdeutschen Penne, nicht der verachteten Kuschelpädagogik. Griechenlands Premier Alexis Tsipras müsse «nachsitzen», «seine Hausaufgaben machen», Griechenland habe «das Klassenziel nicht erreicht», verdiene «schlechte Zensuren», dürfe nicht länger «den Klassenclown spielen» und so weiter.
In dieser Sicht der Dinge ist Angela Merkel die Lehrerin der Euro-Gruppe, die ihre Autorität zu verlieren drohte, wenn sie es weiter zugelassen hätte, dass jener Klassenclown ihr auf der Nase herumtanzt. «Wenn das jeder so machen würde» – dieses abgedroschene Argument der schwachen Autorität ist oft bemüht worden, obwohl John Yossarian in Joseph Hellers «Catch 22» längst die Antwort darauf gegeben hat: «Wenn das jeder so machen würde, wäre ich dumm, das nicht auch so zu machen.» Und am Ende zog wohl, so wurde es vom Finanzministerium durchgestochen, die Drohung, den unbotmässigen Schüler zeitweilig vor die Tür zu setzen, bis er zur Räson gekommen wäre.
In der Tat geht es bei den Verhandlungen um weitere «Hilfsmassnahmen» für Griechenland gar nicht um Griechenland, sondern um die Euro-Zone; so wie es bei der Disziplinierung eines unbotmässigen Schülers gar nicht um ihn geht, sondern um die anderen, um die Klasse und ihre Disziplin, um die Autorität der Lehrerin, um die Gültigkeit der Schulordnung und so weiter.
Jeder weiss, dass Griechenland nach den Verhandlungen kein anderes Land sein wird, so wie der auf den Flur geschickte Schüler nicht als Intelligenzbestie und Fleissbolzen zurückkehrt. Aber die Ordnung ist vorerst gerettet, bis zur nächsten Krise. Wie sinnvoll diese Ordnung ist, wie gut der Unterricht, das steht bei solchen Massnahmen nicht zur Debatte. Es handelt sich ja um einen rein gruppendynamischen, nicht pädagogischen Prozess.
Griechenland als Klassenclown
Wie denn der Fall des Klassen- und Pausenclowns nur der Sonderfall eines bekannten gruppendynamischen Prozesses darstellt, bei dem die Konflikte innerhalb der Gruppe abgelenkt werden auf einen Aussenseiter oder Störenfried, mit dessen Isolierung, Ausschluss oder sonstiger Disziplinierung der prekäre Zusammenhalt gewahrt wird.
Solche Prozesse laufen informell bei Sitzungen und Ferienaufenthalten, in Firmen und Familien ab. Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, deren individuelle Interessen verschieden sind und die auf diese oder jene Weise dazu gebracht werden – oder sich selbst dazu bringen – müssen, diese Interessen einem Gesamtinteresse, nämlich dem Zusammenhalt der Gruppe, unterzuordnen.
Man muss gar nicht erst erklären, dass es sich bei den Mitgliedern der Euro-Gruppe um eine geradezu archetypische Konstellation handelt, die – zumal Störer und Blitzableiter wie Grossbritannien bei den Sitzungen fehlen – fast zwanghaft einen Aussenseiter braucht, um die Kohäsion zu wahren.
Der Kommunismus brachte mit der Institution der öffentlichen Kritik und Selbstkritik diesen gruppendynamischen Prozess zur Perfektion. Der «Parteifeind», der in offener Sitzung nach anfänglicher Abwehr und Beteuerung seiner Loyalität unter den Angriffen der Genossen, die er für seine Freunde hielt, die Fassung verliert und schliesslich unter Tränen zugibt, ja fast selber glaubt, dass er gegen die Partei konspiriert hat, und um eine Strafe bettelt – wer das nicht erlebt hat, mag nicht glauben, dass so etwas möglich ist; wer es erlebt hat, wird mit Schaudern die Wiederholung des Spektakels betrachten.
Wie im Kommunismus oder der Inquisition
Es handelt sich natürlich hierbei – wie bei jedem Ritual, das die Gruppe stärken soll – um ein religiöses Phänomen; um die Einkleidung eines gruppendynamischen Prozesses in religiöse Wendungen. Die Unterwerfung des Klassenfeindes unter die Partei, die ja «immer recht hat», bestätigt die Richtigkeit der Glaubenssätze des Kommunismus, so wie die Prozesse und Strafen der Inquisition die Richtigkeit der Glaubenssätze des Katholizismus und die Steinigungen und Fatwas des Islam gegen Abtrünnige den gefährdeten Glaubenseifer der Umma bestärken sollen.
Was in Europa passiert, ist – zum Glück – eher dem Geist einer humaneren Religionspraxis geschuldet. Das Judentum kannte den «Sündenbock», auf den alle Vergehen der Gemeinschaft geladen und der daraufhin «in die Wüste» geschickt wurde. Kein objektiver Beobachter der Europäischen Union kann ernsthaft daran zweifeln, dass hier etwas Vergleichbares passiert ist.
Was wird denn den Griechen vorgeworfen? Allgemein, dass sie über ihre Verhältnisse leben, auf Pump nämlich, dass sie also das Erbe künftiger Generationen verfrühstückt haben. Willkommen in der Realität der Euro-Zone. Dass sie kein tragfähiges Wachstumsmodell hätten, um aus der Schuldenkrise herauszukommen. Willkommen in der Realität der Euro-Zone. Dass bei ihnen die Mittelschicht alle Lasten des Sozialstaats trügen. Willkommen – na, Sie wissen schon. Vor allem aber: dass sie permanent die Regeln brechen würden, während ja die Euro-Zone nur durch das Befolgen von Regeln zusammengehalten werde.
Mhm. Zum Beispiel die Drei-Prozent-Defizitregel des Maastricht-Vetrags, die Deutschland und Frankreich zuerst brachen. Zum Beispiel die No-Bail-out-Klausel des Maastricht-Vertrags, die wiederum Deutschland und Frankreich schnell fallen liessen, als es darum ging, ihre Banken zu retten, die sich an griechischen Staatsanleihen bedient hatten.
Legal – illegal – scheissegal
Zum Beispiel die Regel, dass die EZB keine Staatsanleihen kaufen und dass sie sich nicht in die Politik einmischen dürfe. Zum Beispiel die Regel, dass es nur dann eine europäische Verfassung geben könne, wenn die Bürger Frankreichs und Hollands dafür stimmen; sie stimmten dagegen, also wurde die Verfassung in Vertrag umbenannt und ohne Volksabstimmung durchgewinkt. Und so weiter und so fort.
Legal – illegal – scheissegal, nach diesem Motto funktionierte die Euro-Zone schon immer, und gerade deshalb musste an Griechenland ein Exempel statuiert werden. Gerade deshalb übrigens kocht die Empörung in Deutschland so hoch. Man ist auf Leute, die ganz anders sind als man selbst, nie so wütend wie auf Leute, die einem den Spiegel vorhalten.
Das Problem ist nur: Der gruppendynamische Prozess verhindert gerade die nötige Introspektion. Der Euro wäre nie an Griechenland gescheitert. Er scheitert daran, dass er die Ungleichgewichte innerhalb der Euro-Zone verstärkt, während er nach aussen als Weichwährung funktioniert. Er scheitert daran, dass die Bürger Europas die politische Union nicht wollen, durch die er erst funktionieren könnte.
Der Euro scheitert an Problemen, die es nicht geben würde, wenn er nicht existierte. Die gemassregelten Griechen kehren reumütig ins Klassenzimmer zurück. Aber die Lehrerin hat immer noch kein pädagogisches Konzept für die Klasse.
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