Was ist konservativ, spiessig gar? Dieser Tage konnte man zwei um den Kosmos Richard Wagners wabernde Spektakel ähnlicher Art, aber mit völlig anderem Ausgang erleben, die zudem der Zufall (oder Unfall, je nachdem) verschuldet hat. Und die am Ende doch beide die Frage stellen: Wo steht heute die Moderne?

Ist sie ewige behauptete Avantgarde, die durch die Preisgabe aller Massstäbe gar keinen Kriterien mehr gehorchen muss, dank selbst ernannter Originalgenies alles darf? Auch wenn solches bereits in einer zähen Wiederholungsschleife steckt? Oder liegt in der nostalgieverliebten Rückschau das Fundament für ein besseres Kunst-Morgen? Während im Paralleluniversum der bildenden Kunst die Mega-Schauen Biennale und Documenta diese Frage weder beantworten können noch wollen, stellt sich nun immerhin das Musiktheater diesem Diskurs.

Bei den Wiener Festwochen gab es Jonathan Meeses Bühnenweihfestspiel-Übermalung «Mondparsifal Alpha 1-8», eine «Parsifal»-Bearbeitung mit aus der Originalpartitur zusammengesampelten und geloopten, mit ein wenig Freejazz aufgelockerten Klängen von Bernhard Lang – und keiner sagte dem ewigen, gelockten Kind, dass es unter seiner Adidas-Jacke sehr nackt ist.

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Pseudo-Gralstempel als sentimentale Verbeugung

Die Freunde des Post-Performativen hatten ihren Spass, daran, dass der bei den Bayreuther Festspielen angeblich rüde rausgeschmissene Meese eher unbedarft und mit wenig Sinnhaftigkeit Richard dem Grossen seine Reverenz erweist. Mit ein paar seiner ewigen Versatzstücke als Swinging-Sixties-Revue, mit Referenzen an Filme vor allem: «Zardoz», «Barbarella», «Wicker Man». Ein Pop-Remix im Pseudo-Gralstempel als sentimentale Verbeugung – auch vor dem grossen Christoph Schlingensief.

Und nur ein paar Tage später kam am Prager Nationaltheater der einst in böhmischen Bädern ersonnene «Lohengrin» zur Premiere; freilich in einer Theaterhistorikern seltsam bekannt dünkenden Anmutung. Hier nämlich war die genau 50 Jahre alte «Lohengrin»-Inszenierung von Wolfgang Wagner rekonstruiert worden, die 1967 die Bayreuther Festspiele eröffnet hatte. Dieser archäologische Wahnsinn hatte freilich keine Methode, auch wenn er scheinbar zum Trend zur Exhumierung längst toter Inszenierungen passt, der bereits die Opernhäuser von Lyon, Salzburg und bald auch die Mailänder Scala erfasst hat.

«Deutsches Schwert» im «deutschen Reich»

Ursprünglich sollte direkt am Moldau-Ufer Bayreuths Festspielchefin Katharina Wagner, die seit 2011 nicht mehr jenseits des Hügels inszeniert hat, interpretatorisch schalten und walten dürfen. Die technischen Beschränktheiten des im Vorderhaus schön historistisch golden glitzernden Nationaltheaters verhinderten dies allerdings. Ohne funktionierende Unter- und Obermaschinerie sah sich selbst Wagners Urenkelin lahmgelegt. So wurde die Idee von Papas «Lohengrin»-Auferstehung ersonnen.

Also sieht man jetzt in einem absteigenden, mit Jugendstilranken bemusterten Oktogon die Mannen im Halbkreis sich aufstellen, rechts blau gewandet, die Brabanter, links die Sachsen in Rot. Hier kniet noch die keusche Maid vor ihrem Retter im weißsilbrigen Nachthemd, und zur Erwähnung des «deutschen Reich» darf das «deutsche Schwert» (wenngleich aus Pappe) geschwungen werden. Bilder, von keinerlei Legitimationszweifel getrübt; sie muten märchenhaft, ja tröstlich an.

Wolfgang Wagners altes Antwerpen ist von sehr deutscher Italiensehnsucht gespeist. Die Astwände und der Bettbaldachin folgen mittelalterlichen Vorlagen aus Verona und Pisa. Er selbst hatte in einem späteren Regiebucheintrag die goldene Bank darunter flapsig als «Liebesrutsche» bezeichnet. Auch wenn da jetzt in Prag nur sehr dezent, vor allem von der lyrisch-fliessend sich bewegenden Elsa (Dana Burešová), herumgegrabscht wurde. Ihre anfangs glasschneiderartigen Höhen hatte sie bis dahin abgemildert. In der Generalprobe war ein etwas tumber, aber deutlich singender Aleš Briscein ihr passiver Schwanenritter, in der Premiere sang, etwas über dieses Fach hinaus, Stefan Vinke für den erkrankten Christopher Ventris.

Mit zwei Regiebüchern dokumentiert

Viel Interpretation ist nicht auszumachen. Es wird posiert, gerungen und gesungen. Freiheiten leistete sich einst Wolfgang Wagner nur, wenn Elsa am Schluss den als weissen Astraljüngling emporstapfenden Gottfried wegschubst, nachdem Lohengrin auf seinem auf die Bühnenrückwand projizierten Schwan entglitten ist.

Katharina Wagner und ihre Helferlein haben Papas Kulissen und Kurt Palms naive Kostüme reproduziert, auch leicht modifiziert. Sie sind nun weniger steif, ohne das teure Leder fliessender, sollen menschlich, nicht mythisch wirken. Mit seinen als Fischweiber oder Grätenfrauen charakterisierten Brautbegleiterinnen leistet sich der eben nicht nur nachschneidernde Thomas Kaiser sogar eine kleine Subversion.

Dieser «Lohengrin» ist mit zwei Regiebüchern, die inzwischen nach der Schenkung des väterlichen Archivs in der Villa Wahnfried deponiert sind, vergleichsweise gut dokumentiert. Zudem fanden sich im Festspielhaus die Originalkostüme der Solisten und sehr viele, sehr gute Fotos. Denn diese Inszenierung leitete 1967 eine Zeitenwende in Bayreuth ein, freilich weniger in ästhetischer Hinsicht, mehr machtpolitisch. Es war die erste unter der alleinigen Leitung Wolfgang Wagners, der nach dem Tod seines Bruders Wieland im Sommer davor auf dem Hügel Tabula rasa in Familienangelegenheiten gemacht hatte.

«Wolfgangs schwerfälliger Schwanengesang auf Neu-Bayreuth», «hilflos inszeniertes Gesamtkunstwerk ohne Provokationen und Personenregie», so giftete damals die Kritik. Und während der Hügel sich aktuell zur Hundertjahrfeier von Wielands Geburtstag rüstet (Wolfgang ist dann 2019 dran), blickt man irgendwie berührt auf dieses akribisch nachgemachte Traumspiel und Rumstehtheater.

Dieser steife, fast bewegungslose «Lohengrin» als lebendes Bildertheater im Mittelalterlook scheint wie in der Zeitkapsel einen schon damals nicht mehr haltbaren Zustand der Bühnenästhetik einzufangen. Kurz vor der Premiere war Benno Ohnesorg vor der Deutschen Oper Berlin erschossen worden, die Studentenunruhen brachten die BRD-Nachkriegsgesellschaft in Bewegung.

Einige haben Tränen in den Augen

1969 durfte dann mit August Everding endlich ein Nicht-Wagner in Bayreuth inszenieren, den «Fliegenden Holländer». Ab 1970 revolutionierte Ulrich Melchinger mit seinem Kassler «Ring» einmal mehr die Wagner-Rezeption. Und 1972 zog mit Götz Friedrichs skandalisiertem «Tannhäuser» (ost-)deutsches Regietheater und für manchen damit schlimmstes Unheil in dieses Haus.

Am Prager Dirigierpult hatte (anders als 1967 Rudolf Kempe in Bayreuth) nun der drauflosstürmende Konstantin Trinks das sich allzu behäbig im böhmischen Blechschönklang gefallende Orchester nicht immer im Griff. So manches klapperte hinterher. Aus dem soliden Restensemble ragte Eliška Weissová als Ortrud fulminant heraus, nicht nur als zitronengelbe, paillettengiftgrüne, böse Möchtegern-Königin. Ihr mit pfeilgeraden Spitzentönen schallendes «Entweihte Götter» gab dieser Begegnung mit der Opernvergangenheit wenigstens für Momente etwas aufregend Heutiges.

Ausgerechnet in der alten, äusserlich so unversehrten, wenngleich in den letzten 25 Jahren nicht selten auch mehr gefälschten als restaurierten Stadt Prag ist jetzt also das schon einmal trügerisch Schöne einer scheinbar werkgetreuen Wagner-Inszenierung wiedererstanden. So mancher anwesende Besucher von damals (die Inszenierung lief bis 1972 am Hügel) hatte Tränen in den Augen, ja wartete, dass vielleicht doch Wolfgang Wagner am Schluss auf die Bühne käme.

Es war aber dessen Tochter, die in einem kindlichen Akt von sicher auch liebender Selbstverleugnung hier die Kreide des Renegatentums gefressen hat. Um sicher bei ihrer nächsten Regietat umso vehementer zuzuschlagen. Jonathan Meese aber, der wird sich weiterhin nur vor dem Gralstempel austoben dürfen.

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