Hüpfen kann er noch, der Feldhase (Lepus europaeus), das Charaktertier unserer mitteleuropäischen Agrarlandschaft. Jetzt im Frühjahr, wenn der Bewuchs auf den Feldern noch niedrig ist, sieht man ihn hoppeln. Der Naturfreund freut sich. Der Jäger hütet sich, allzu grosse Hoffnungen zu hegen, denn aus Erfahrung weiss er, dass der Herbst, die Jagdzeit, nicht hält, was der Frühling verspricht.
Und die Wildbiologen, die zählen und grübeln und wenden die immer gleichen Theorien hin und her und können doch nicht erklären, warum der Hase als solcher seit vierzig Jahren bei uns nicht mehr auf einen grünen Zweig gekommen ist. Vorbei, die grossen Hasenzeiten!
Verdacht fällt auf moderne Medizin
Ja, lokal ist es immer noch so wie in diesen Zeiten, aber meist ist es doch ganz anders. Hat die Wildtierforschung etwas übersehen? Es gibt Hinweise darauf, dass des Rätsels Lösung im Darm des Hasen zu suchen ist und mit unserer modernen Medizin mehr zu tun hat, als uns lieb sein kann.
Seit der Deutsche Jagdverband 2001 das Wildtierinformationssystem WILD (Wildtierinformationssystem der Länder Deutschlands) ins Leben rief, inzwischen eine der besten Datenbanken zu ausgewählten Arten, werden die Hasen auf repräsentativen Flächen in ganz Deutschland im Frühjahr und im Herbst per Scheinwerfer gezählt.
Nettozuwachs unterdurchschnittlich
Bis 2008 gab es einen leichten Aufwärtstrend bei den Hasen von im Bundesdurchschnitt elf Tieren pro Quadratkilometer, also 100 Hektar Offenland, auf 15 Tiere. 2015 war die Hasenpopulation wieder auf elf Tiere pro Quadratkilometer gesunken. Das ist eine Bestandsschwankung von immerhin 25 Prozent.
Bedenklich ist auch, dass der Nettozuwachs vom Frühjahr bis zum Herbst nur 16 Prozent beträgt, obwohl jede Häsin nach einer Faustregel im Frühjahr und Sommer drei mal drei Junghasen setzt. Hasenjagd in grossem Stil wie früher, als die Hasen «geerntet» wurden wie die Kartoffeln, gehört damit der Vergangenheit an.
Das grosse Hasensterben
Die Nordseeinsel Pellworm, 3400 Hektar gross, war eines jener kleinen «gallischen Dörfer», in denen sich der Hase trutzig behauptete. Zählungen seit 1995 bestätigten regelmässig aussergewöhnliche Populationsdichten und überdurchschnittlich hohe Reproduktionsraten. Kein Wunder, sagen die Jäger, es gibt auf Pellworm ja weder Fuchs noch Marder noch Wiesel. Die ganze Sippschaft der terrestrischen Fressfeinde des Hasen muss in Pellworm draussen bleiben.
Dann kam das Jahr 2007 und mit ihm das grosse Hasensterben. Etwa 1000 verendete Hasen wurden im Herbst gefunden. Was war geschehen? Der naheliegende Verdacht, dass wieder einmal eine der klassischen Hasenseuchen wie die Hasenpest (Tularämie) oder die Viruserkrankung EBHS (European Brown Hare Syndrom) zugeschlagen habe, bestätigte sich nicht.
Mais und Gras richten Schaden an
Aber das Massensterben auf den Äckern und Wiesen fiel zusammen mit einer radikalen Umstellung der Landwirtschaft. 2007 fielen die EU-Prämien für Flächenstilllegungen weg. Gleichzeitig begann der Boom der Bioenergieerzeugung.
Wo bisher Brachen mit artenreichem Bewuchs waren, wuchs nun Mais. Und wo der Boden für den Mais zu sumpfig war, wuchs Gras, das fünfmal im Jahr geschnitten wurde. Dass das nicht gut ist für den Hasen, leuchtet unmittelbar ein. Doch was genau macht die veränderte Landwirtschaft mit ihm?
«Ökosystem Darm»
Antworten auf diese Frage sollen Forschungen liefern, die vom Verein Game Conservancy Deutschland (GCD) finanziert werden, der sich dem Naturschutz durch «ökosystemgerechte» Nutzung der Natur verschrieben hat. Der Wildbiologe Daniel Hoffmann und Kollegen von der Veterinärmedizinischen Universität Wien gehen dabei von einer in ihrem Fach bisher ungewöhnlichen Hypothese aus.
Während in der humanmedizinischen Forschung das sogenannte «Mikrobiom», früher als «Darmflora» bezeichnet, immer mehr in den Fokus gerät als Schlüssel der Beziehungen zwischen einem komplexen Organismus und seiner Umwelt, wird diesem Ansatz in der Wildtierforschung bisher wenig Beachtung geschenkt. Dabei hat das «Ökosystem Darm» entscheidenden Einfluss auf das Immunsystem und andere physiologische Steuerfunktionen.
Anpassung an hasenfeindliche Verhältnisse?
Hoffmann und seine Kollegen untersuchten deshalb die Därme von mehr als 300 Hasen auf die Besiedelung durch Keime. In den ersten Jahren der Untersuchung, also unmittelbar nach der Umstellung der Pellwormer Landwirtschaft, zeigte sich eine drastische Dominanz des Allerweltskeims Escherichia coli, der alle anderen Keime marginalisierte.
Das Bakterium kommt zwar im Hasendarm immer vor, jedoch, wie frühere Studien zeigten, in nur geringer Menge. Die Verschiebung könnte als eine Reaktion des Hasenmikrobioms auf die radikale Veränderung der Umwelt interpretiert werden.
Dafür spricht auch, dass E. coli im Lauf der Jahre zurückging, während die Hasenpopulation zunahm. Haben wir es also mit einer gelungenen Anpassung zu tun? Können Hasen mit, aus bisheriger Sicht, ausgesprochen hasenfeindlichen Verhältnissen fertig werden, wenn sie nur genügend Zeit für die Umstellung haben?
Fast die Hälfte der Hasen betroffen
Die Forschungen der Game Conservancy ergeben nur Schlaglichter. Noch ist die Datenbasis zu schmal, um weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Ausserdem brach die Hasenpopulation 2014 von Neuem ein. Sie halbierte sich nahezu von 60 auf 35 Individuen pro 100 Hektar, woraus man zunächst nur den Schluss ziehen kann, dass sie in höchstem Masse labil ist. Hat die Hasenforschung etwas Wesentliches übersehen?
Manchmal führen in der Wissenschaft Nebenpfade zum Ziel oder zumindest zu neuen Gesichtspunkten, die das Gesamtbild möglicherweise grundsätzlich verändern. Hoffmann und seine Kollegen untersuchten die Darmabschnitte der Pellwormer Hasen auch auf multiresistente Keime, sogenannte «Krankenhauskeime», die medizinisch und gesundheitspolitisch eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit sind.
Während 2012 und 2013, den Jahren des Hochstandes der Hasenpopulation, nur bei einzelnen Tieren mehrfach resistente Staphylokokkus aureus (MRSA) nachgewiesen werden konnte, waren 2014 40 Prozent der untersuchten Hasen von diesem Keim kolonialisiert.
Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Tier
Nachdem einige Landwirte den Wissenschaftlern erlaubten, ihre Tiere auf Resistenzen zu untersuchen, konnte auch bei Rindern und Schafen eine Kolonisierung durch MRSA festgestellt werden. Dass der Keim den Weg vom Nutztier zum Wildtier genommen hat, erscheint wahrscheinlich.
MRSA ist im Normalfall kein Killerbakterium. Aber ignorieren sollten Medizin und Gesundheitspolitik die Verbreitung von «Krankenhauskeimen» in Wildtierpopulationen, also in der freien Landschaft nicht.
Der Hase gilt als Symbol der Fruchtbarkeit. Im Frühling soll er sogar Eier legen. In grauer Vorzeit schloss sich das Steppentier als Kulturfolger dem Menschen an und besiedelte auch die Kultursteppen, die der Mensch schuf.
Dafür gab er dem Menschen vielerlei Nützliches vom Hasenbraten bis zum Hasenfilz, und auch die Hasenpfote war früher als Kleiderbürste weithin in Gebrauch. Nun zeigt die moderne Wissenschaft, dass die Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Hase vielleicht noch viel tiefer geht, bis ins Mikrobiom nämlich.
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