Jetzt ist es vorbei, «Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht, nur das traute hoch heilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar» und so weiter. Weihnachten, dieses seltsame Konstrukt der unbefleckten Langeweile, der manifeste Anker in unserer christlichen Tradition und Mittelpunkt, der von Hoffmann von Fallersleben besungenen biedermeierschen Konsum-Erlebniskultur, war wieder da.
Keine «German Angst», ich werde nicht in das Horn unendlichen Konsums und Raffgier unter dem Weihnachtsbaum blasen, wohl aber, wie könnte es anders sein, danach fragen: woher kommt dieser Design-Historismus, wenn es um Weihnachten geht? Woher dieses Festhalten an dem angegrauten Noël-Ästhetik-Anabolika unserer westlich geprägten Kulturen, insbesondere am «schöner und höher» sein als andere.
Reichhaltig bis kreativ geschmückt
Egal ob in meiner Geburtsstadt Frankfurt, in Dortmund, in Rom, Rio de Janeiro, am Rockefeller Center in New York etcetera, überall will man ihn gesehen haben: den besten und höchsten, ultimativ feiertagskonform designten Weihnachtsbaum Deutschlands, der Welt, des Universums. Dabei hatte schon Präsident Calvin Coolidge der Welt einen 82 Meter hohen Riesenmammut-Nation’s-Christmas-Tree in den 1920ern beschert und damit, ganz der amerikanischen Tradition folgend, die Stars and Stripes XXL-Leadership dokumentiert.
Aber auch die Bäume in mit dem Schneesubstitut Sand gesegneten Abu Dhabi tragen eine gestalterische Last, hier steht nämlich der angeblich oppulenteste Baum mit weihnachtlichen Attributen im Wert von circa 11 Millionen Dollar. Im nicht ganz so reichen belgischen Malmedy ging man andere Wege, um in der globalen Weihnachtskonkurrenz zu punkten, und heftete 194'672 Kerzen zwischen die Tannennadeln, um ein Minimal-Universum nachzustellen.
Anlass zu Huldigung und Dekorationswahnsinn
Auch Zuhause sind dem Wettbewerb der Christmas-Design-Optionen kaum Grenzen gesetzt. Da gibt es einerseits die liturgische Anhängerschaft, die den Weihnachtsbaum als Traditionsbewahrer sieht und dem Herrnhuther Stern als andächtigem Kreativ-Stachel im Fleisch der Ungläubigen huldig. Andererseits ist da die überbordende Dekorations-Peer-Group, die eine Tanne als gestalterische Sondermülldeponie ausarbeitet.
Wer echt wissen will, was eine weihnachtlich-private Supernova im Gestaltungskosmos sein kann, dem empfehle ich dringend einen Besuch in den italienisch-geprägten Dyker Heights in New York. Es müsste demnach eher eine Befana oder ein Babbo Natale sein, die in diesem Teil Brooklyns herumspringen, aber stattdessen sind es Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen oder auch mal der moderne Einzelgänger Rudolph (the red-nosed Reindeer), der mit dem einen oder anderen Santa-Claus-Schlitten den sakral geschmückten Vorgarten durchpflügt.
Flanieren durch glühbirnenverhangene Konsummeilen
In einer der Fest-Dioramen reist der, von dem Grafiker Thomas Nast in der Jahrhundertwende designte und von Hadden Sunbloom evolutionierte, Weihnachtsmann gar in einer überdimensionalen Schneekugel samt Kunstschnee. Das passt genau zu dieser visuell brutalen Oppulenz und beansprucht mit der Lichtsituation die Kernbrennstäbe im nahegelegenen Atomkraftwerk von Indian Point bis zur Kernschmelze. Dagegen sind wir im teutonischen Umfeld deutscher Innenstädte immer noch im Dieter Rams Weihnachts-Dekorationsmodus.
Trotzdem oder gerade deshalb habe ich es auch dieses Jahr genossen, als Produkt einer dialektischen Design-Emulsion aus Ulmer Schule und Heinz Edelmann oder Wim Crouwel und Erik Kessels durch glühbirnenverhangene Konsummeilen zu flanieren und von einem möchte-gern Weihnachtsmann in geringfügig modifizierter Baumarktgartenhütte und blinkenden fünfzackigen Sternen an der Mütze Glühwein angereicht zu bekommen.
Gefährliche Strömung
Das typografische Grundrauschen aus unendlich vielen feierlich-süsslichen Freefonts, wie zum Beispiel Kingthings Christmas, Santa's Sleigh oder PW Joyeux Noel, allesamt in pseudo-3D und Gold-Effekt-Lack präsentiert, war allerdings auch dieses mal schwer zu ertragen.
Aber wenn dann Freunde, die einen Wellensittich auf dem Kopf stehen lassen, einen Schuss Strohrum ins Glühwein-Glas bugsieren, erscheint die Nutzung des geballten Weihnachts-Clipart Schatzes aus den Untiefen des Internets wie die Bergung der gesunkenen Goldbarren aus dem Rumpf der SS Central America, oder gar Helene Fischers Christmas Ohrenhonigloop wie Musik. Am Ende ist man gezwungen, aus dem lamettaschweren Kreativtsunami aufzutauchen, sonst reisst einen die Grundströmung der emotionalen Gravitationswelle bis zum nächsten Räuchermännchenstand.
Marketingmacht läuft auf Hochtouren
Auch die Flucht vor feierlichem Schall und Rauch ins faszinierende virtuelle Abenteuer bringt keine Design-Erleichterung, denn Weihnachten ist, medial gesehen, die Zeit des Disney & Lucas monumental-Overkills. Dieses Jahr überholte Star Wars mit enterprise-iger Whop-geschwindigkeit als historisch-futuristisch-genderkorrektes Spektakel alles andere, was auf die Leinwand wollte. An der Kasse im Supermarkt, im Buchhandel und den Toybutzen des Universums stapeln sich Sammelbilder, Figuren, Poster und weiteres als geballte Marketingkraft.
Wie im biblischen Kontext wird hier in hohem Masse auf mangelhaften, aber etablierten Designhistorismus gesetzt. Die im Fluchtpunkt der Unendlichkeit verschwindende, ungelenk gesetzte, miese Schrifttype ist nur eine erste Einstimmung auf die, ebenso schlecht eingesetzten, holzschnittartigen Charaktere. Da war Raumpatrouille Orion mit Dahle Spitzern und Bügeleisen auf dem Steuerpult Dietmar Schönherrs ausgefeilter. Zugegeben, man kann sich in dieser holistischen Blase aus Luke Skywalker und Todessternen verlieren und wird unweigerlich von der Marketingmacht auf die dunkle Seite der Weihnachtzeit gezogen.
Es fehlt an weihnachtlicher Experimentierfreudigkeit
Aber sobald man wieder leicht anverdaut und vom 3D-Koller geschwächt in die Realität ausgeschieden wird und zwischen den geschmückten Tannen und leuchtenden Strassendekorationen umherirrt, ist die Verwandtschaft beider gestalterischer Haltungen immanent. Egal ob Carrie Fisher, Mark Hamill oder Harrisson Ford, sie alle werden als neu-biblische Gestalten in der virtuellen Millenium-Falken-Krippe platziert. Beide Welten verfolgen eigene, fast schon allmächtige Corporate-Design-Richtlinien, die das «vom Himmel hoch da komm ich her» als Claim kongruenter und romantischer Jahresend-Wunschwelten von Eltern und Kindern definieren.
Ich glaube, in dieser emotionalen Dimension findet sich ein Grund für das überwiegende Fehlen der weihnachtlichen Experimentierfreudigkeit. Vielleicht ist diese weihnachtliche Abkehr von üblichen Entscheidungsfaktoren wie Innovation, Design, Performance, Ergonomie und die Bekenntnis zu profanem Traditionalismus und rituellem Altruismus eine Art «Christmas truce», der die alltägliche Grabenkämpfe vergessen lässt. So gesehen hat Weihnachten in einem Universum aus Wechselkurs digitalen Handelsplattformen sogar ein wenig revolutionäres Potential.
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