Ein drei mal drei Meter kleiner Raum, ein Bett, ein Tisch, ein Herd, ein Schrank, eine Toilette und überall kleine Dinge, die darauf hindeuten, dass dieser Raum schon länger benutzt wird. Die Wände scheinen schaumgepolstert zu sein, und meterhoch oben befindet sich unerreichbar ein Dachlicht, das blauen Himmel zeigt oder auch schon mal liegen gebliebene Schneeflocken. Und jetzt, es ist Morgen, regt sich etwas unten im Raum. Eine junge Frau weckt ihren kleinen Sohn. Es ist sein Geburtstag.
Am Anfang stand natürlich Josef Fritzl, der seine Tochter in einen Keller sperrte und mit ihr sieben Kinder zeugte, von denen allein drei nie das Tageslicht erblicken durften, bevor sie 18, 17 respektive fünf Jahre alt geworden waren. Dieser Fall war also die Anregung für den Roman «Raum» der kanadischen Schriftstellerin Emma Donoghue, und als der Roman ein Erfolg wurde, erhielt sie von einer Filmfirma den Auftrag, ihn in ein Drehbuch umzuarbeiten.
Schauderliche Grundidee
Nur: Welche Art von Geschichte sollte das wohl sein? So schrecklich, so spektakulär sie war – es war auch jene Art von Geschichte, die man wohl schaudernd zur Kenntnis nimmt, aber nicht näher an sich herankommen lassen möchte, schon gar nicht in der Konkretheit von Filmbildern.
«3096 Tage», die Verfilmung von Natascha Kampuschs Gefangenschaft, wurde zu einer Art permanentem Duell zwischen ihr und ihrem Einkerkerer. Donoghues Roman hatte diese Dynamik aufgebrochen, indem sie der Entführten und dem Entführer ein drittes Element hinzufügte, den Jungen Jack nämlich, welcher in der Gefangenschaft geboren wird.
Perspektiven des Eingesperrtseins
Nun feiert er seinen fünften Geburtstag und lebt in dem Glauben, dass die neun Quadratmeter des «Raums» die gesamte Welt seien. Ein Draussen, das gibt es für ihn nicht, und die Figuren und Landschaften aus dem Fernseher sind in seinen Augen nur elektronische Schatten, nicht greif-, nicht erlebbar.
Erzählte man diese Geschichte aus der Perspektive Jacks, wäre es eine der Weltentdeckung wie die von Truffauts «Wolfsjungen» geworden, der unter Tieren in den Wäldern aufwächst, oder jene potenzielle, aber noch nie in aller Konsequenz ausfantasierte und niedergeschriebene von dem Computerfreak, der sich völlig in seine virtuelle Realität zurückgezogen hat.
Erzählte man sie aus der Sicht seiner Mutter Joy, wäre es wiederum eine völlig andere Geschichte: eine der tiefen Verzweiflung über das Eingesperrtsein, der ständigen Demütigung durch den Zwangs-«Tausch» von Sex gegen Lebensmittel, eine des mütterlichen Instinkts, wonach das Kind vor der schlimmen Wahrheit beschützt werden muss – in etwa muss man sich das so vorstellen wie den Roberto Benigni, der in «Das Leben ist schön» seinem Sohn die Schrecken des Konzentrationslagers als Spiel zu verkaufen versucht.
Universales Erzählen vom Feinsten
Es stecken so viele faszinierende Abwege in «Raum», aber Donoghue und ihr irischer Regisseur Lenny Abrahamson (bekannt geworden durch die Komödie «Frank», worin Michael Fassbenders Kopf die ganze Zeit in einem riesigen Pappmascheehaupt steckt, einer Art mobilem Gefängnis) schlagen keinen so richtig ein, denn ein jeder würde in dunklere Abgründe führen, als sie dem Publikum zumuten möchten.
Es ist jener Effekt, der gern mit dem Begriff des «universalen Erzählens» lobend camoufliert wird. Vor allem Filmproduzenten lieben «universale» Geschichten, denn Filme, die in China so verständlich sind wie in Grönland, bringen mehr ein. Die Universalitis hat aber auch zu einer Verarmung des Erzählens geführt, denn so viele «universale» Fabeln gibt es eben nicht.
Die von der Mutterliebe ist jedoch tatsächlich eine von ihnen, und mit ihrer Hilfe schliessen Donoghue und Abrahamson Kompromisse des Bessererträglichen im Angesicht des Unerträglichen. Sie wechseln zwecks Abmilderung gern den Blickwinkel zwischen Mutter und Sohn – und sie können sich dabei auf ihre phänomenalen Hauptdarsteller ohne Weiteres verlassen.
Unschuldiger Junge und unbelastete Filmmutter
Da ist der beim Dreh siebenjährige Jacob Tremblay, bei dem man sich wie bei so vielen Kinderrollen immer wieder fragt, wie weit ihm die Tragweite dessen eigentlich klar gewesen sein kann, was er da nun zu spielen hatte.
Wahrscheinlich hilft dem Darsteller eine intakte kindliche Unschuld bei der Sache. Seine Filmmutter hat später erzählt, wie sie nach der tränenreichen Wiedervereinigungsszene auch nach dem «Schnitt!»-Ruf unwillkürlich weiterschluchzte; da habe Jacob sie aus dem Auto gezogen, «Hör jetzt auf, du hast mich ja wiedergefunden» gesagt und zu tanzen begonnen.
Und da ist eben auch diese Filmmutter, die 26-jährige Brie Larson, die praktisch aus dem Nichts heraus auf die Weltbühne gesprungen, so wie vor ein paar Jahren beispielsweise Jennifer Lawrence in «Winter's Bone» oder auch Julia Jentsch als Sophie Scholl. Larson hatte sich den Part gegen die Konkurrenz von – immerhin – Emma Watson, Rooney Mara und Shailene Woodley gesichert, und es war wohl tatsächlich von Vorteil, dass sie noch kein Rollengepäck mit sich schleppte.
Spagat von Stärke und Schwäche
So waren auf dieses Gesicht noch keine Seherinnerungen eingezeichnet. Es war gewissermassen nackt, und zwar im wahrsten Sinn, denn Larson trägt auch keine Maske. Sie muss eine ungeheuere Gratwanderung vollziehen. Zunächst mimt sie diese Mutter, die längst zusammengebrochen sein müsste, sich aber zum Wohle ihres Kindes eisern bezähmt; dann, nach der Wendung des Geschehens, stellt sie eine Mutter dar, die vom Kollaps doch eingeholt wird, als diese Nabelschnurnähe aufhört.
Brie Larson bewältigt diesen ungeheuren Spagat bewunderungswürdig. Sie hat daher zu Recht den Oscar gewonnen und sich ihre nächste Rolle wohl verdient, in der sie nur gut aussehen und ein wenig kreischen muss: In Vietnam steht sie gerade als King Kongs nächstes Opfer vor der Kamera.
Bis zur Sehnsucht für die simple Sicherheit der alten Unfreiheit
Nicht nur die Perspektive ist aber in diesem intensiven Kammerspiel geteilt, sondern der ganze Film. In der ersten Hälfte tunkt er uns in sämtliche Gefühlszustände, von Grausen über Mitleid und Hoffnung bis zur berauschenden Erleichterung – und in der zweiten setzt er die Zuschauer aufs Neue einem ähnlichen Wechselbad der Gefühle aus, gerade als man denkt, nun sei endlich alles gut.
Natürlich ist nicht alles gut, wenn die Polizei zum Schuppen kommt, in dem Joy und Jack Jahre ihres Lebens verbracht haben. Denn, obwohl Donoghue und Abrahamson solche Gedanken von sich wegschieben, in «Raum» steckt natürlich auch ein Film über die dunklen Seiten der Freiheit. So sehr sie ersehnt wird, so schwierig ist sie auszuhalten und so stark kann die Sehnsucht werden, in die simple Sicherheit der alten Unfreiheit zurückzukehren.
Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.
Der Trailer zu Film mit Oscar-Preisträgerin Brie Larson: