Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 tobten um die französische Stadt Belfort heftige Wintergefechte. Die Belagerung der Festung durch preussische Truppen dauerte von Anfang November bis Mitte Februar.
Es war ein kalter Winter. Schon aus diesem Krieg, der ausschliesslich in gemässigten europäischen Gefilden geführt wurde, sind die Motive von nicht nur dem Feind, sondern auch der Kälte heroisch trotzenden Infanteristen oder Kanonieren überliefert, die in der kollektiven Erinnerung an die Weltkriege des 20. Jahrhunderts eine so grosse Rolle spielen. Kalt also ist es im lieblichen Frankreich in jenem Winter, der noch einer war. Denn die «kleine Eiszeit», die Europa seit dem 15. Jahrhundert im Griff hatte, klang gerade erst aus.
Augenzeugen berichten von ganzen Rudeln
Überliefert ist aus diesem Kriegswinter das Tagebuch eines Hauptmanns von Rauch, der dem Armeekorps des Generals August von Werder angehörte. Rauch berichtet:
«Mit der zunehmenden Kälte wurde auch die Wolfsplage in der Umgebung von Belfort immer lästiger. Die Einwohner der Dörfer und Weiler versicherten uns, dass sie dieses vierbeinige Raubgesindel noch nie in solcher Menge beobachtet hätten. Ich selbst sah häufig Rudel von zwölf bis vierzehn Stück. Zwei Fälle sind zu meiner Kenntnis gelangt, in denen schwächere Patrouillen von den Bestien angefallen wurden. Einmal waren es zwei Dragoner, die sich schliesslich nur dadurch retten konnten, dass sie ihre Pferde preisgaben, da der tiefe Schnee eine weitere Flucht unmöglich machte. Sie kletterten auf eine starke Eiche und feuerten von dort mit ihren Karabinern auf die Wölfe, die beide Pferde niedergerissen hatten. Die Schüsse lockten eine Infanterieabteilung herbei. Andernfalls wären die beiden Leute wohl jämmerlich auf ihrem Baume erfroren.»
Entsetzliche Erzählung
In einem anderen Fall ging die Begegnung mit den Wölfen nicht so glimpflich aus. Von drei Mann, die sich nachts verirrt hatten, entkam einer. Von den anderen beiden und den Pferden fand man «nur noch traurige Überreste, zerstreut umherliegende Knochen, blutige Uniformfetzen und das Sattelzeug». Den Fährten nach zu urteilen, sollen dreissig bis vierzig Wölfe an dieser Attacke beteiligt gewesen sein.
Hauptmann von Rauch war nicht dabei. Er kennt die Ereignisse nur vom Hörensagen. Es klingt unwahrscheinlich, dass dreissig, vierzig Wölfe eine Militärpatrouille angreifen. Vielleicht war die in einen Hinterhalt von französischen Freischärlern geraten, und Wölfe – oder auch Hunde – haben erst nachher an den Leichen und Pferdekadavern gefressen.
Die hungrigen Bestien aus der Kälte
Völlig frei fantasiert hat der Hauptmann allerdings nicht, sondern sich an ein Erzählprogramm über Wolfsangriffe gehalten, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hat:
Es ist kalt; der Schnee liegt hoch; die Wölfe sind hungrig; die Patrouille oder auch der von einer Pferdetroika gezogene russische Schlitten – unzählige Bilder gibt es davon – verliert die Orientierung; aus dem Dunkel brechen die pelzigen Bestien hervor, vor denen sich die Bedrängten mit Glück auf einen Baum retten, wo sie sich bis zur letzten Patrone verteidigen.
Noch der deutsche Kriegsgefangene Clemens Forell aus Martin Bauers Roman "So weit die Füße tragen" (1955) muss sich auf seiner Odyssee aus russischen Lagern in die Freiheit auf einem Bäumchen in der Taiga vor Wölfen in Sicherheit bringen, bis ihn sibirische Eingeborene retten.
Mit der Natur Frieden schliessen
Heute ist die Rückkehr der Wölfe nach Mitteleuropa für viele verbunden mit einer Erzählung, die vom Friedensschluss mit der Natur handelt. Wölfe treten in ihr nicht mehr als Bestien, sondern als bewunderungswürdige Naturburschen auf.
Diese Erzählung tritt nach und nach an die Stelle jener vom Wolf als Kriegsgewinnler und als schauriger Begleiter menschlicher Katastrophen. Denn die Tiere haben nicht nur ein biologisches, sondern auch ein kulturelles Dasein, sobald der Mensch seine Aufmerksamkeit auf sie richtet. Beim Wolf als kulturellem Geschöpf sind wir Zeuge einer Umdeutung, wie sie radikaler kaum sein könnte
«Der Wolf folgt der Trommel» – in dieser Formel verdichten sich nicht nur die Erzählungen, sondern auch die Erfahrungen von Wölfen und Krieg. Im Ersten Weltkrieg waren die Wölfe auf den französischen und flämischen Kriegsschauplätzen schon weitgehend ausgerottet.
Von Kriegen magnetisch angezogen
Nicht so jedoch auf dem Balkan, worauf der Autor Walter Kabel in seinem Buch «Krieg und Raubtiere» (1915) aus der «Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens» sein Augenmerk richtet. Er stellt fest: «Die letzten Balkanfeldzüge haben abermals einen neuen Beweis für die schon früher oft beobachtete Tatsache erbracht, dass jeder Krieg bestimmte Arten von Raubtieren und -vögeln aus weiter Ferne geradezu magnetisch anzieht.»
Kabel zitiert einen ungarischen Militärarzt, der in Bulgarien Dienst tat. Der berichtet, dass «vierfüssiges Raubzeug», vornehmlich Wölfe und Schakale, vom Krieg aus ihren Verstecken herausgelockt würden und den kämpfenden Heeren «ebenso treue wie unliebsame Gefolgschaft leisteten». Das bulgarische Oberkommando habe eine Treibjagd angeordnet, bei der an einem Tag 121 Wölfe, 62 Schakale und 36 Füchse erlegt worden seien.
Sinnbild für alles Schlechte und Grausame
Springt man vom Ersten Weltkrieg in der Geschichte ein halbes Jahrtausend zurück, findet man in jener durch Klimaverschlechterung, Hungersnöte, Pestzüge und verheerende Kriege geprägten europäischen Krisenzeit, in der die Wölfe zum Sinnbild für Pest, Verheerung und Grausamkeit, ja für das Böse schlechthin wurden. Reale Erfahrungen, Fantasie und schwarze Pädagogik weltlicher und kirchlicher Obrigkeit bilden dabei ein Konglomerat, in dem Dichtung und Wahrheit kaum voneinander zu trennen sind.
Ob alle die Wölfe, die durch diese Berichte geistern, wirklich welche waren, oder ob es sich nicht auch um verwilderte Hunde oder Wolf-Hund-Bastarde handelte, kann man nicht mehr sicher sagen. Daran aber, dass hundeartige Raubtiere bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Bild europäischer Kriegsschauplätze gehörten, kann man vernünftigerweise nicht zweifeln. Zu zahlreich und zu konkret sind diese Erzählungen. Und in den Staatsakten sind die Anordnungen der Obrigkeit dokumentiert, durch Treibjagden, mit beamteten Wolfsjägern und anderen Massnahmen der «Plage» Herr zu werden.
Von den Umständen profitiert
Aus dem frühen 15. Jahrhundert, aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England, ist uns das «Tagebuch eines Bürgers von Paris» überliefert, eine anonyme Chronik, als deren Autor man mit einiger Plausibilität einen Kleriker vermutet. Wölfe kommen in dieser Chronik immer wieder vor. Im Jahr 1421 herrschte in Frankreich und auch in Paris kriegsbedingte Hungersnot. Tote wurden nur notdürftig begraben.
Das rief die Wölfe auf den Plan. Sie gruben die Leichen aus, drangen in die Dörfer vor. 1423 kamen sie auch in die Hauptstadt, wo man einige von ihnen tötete und an den Hinterbeinen aufgehängt durch die Strassen trug. Die Bürger spendeten den Jägern Geld. Der Brauch des «quête de loup» hielt sich bis ins 19. Jahrhundert. Im Lauf des Krieges wurden die Wölfe immer dreister. Ende 1438 «kamen sie nach Paris und töteten viele Hunde, und einmal haben sie nachts auf der Place aux Chats hinter der Rue des Innocents ein Kind aufgefressen».
«Bestie von Gévaudan» sorgte für über hundert Opfer
Das alles wird in den Schatten gestellt durch das Wüten der «Bestie von Gévaudan» dreihundert Jahre später am Ende des Siebenjährigen Krieges in einer einsamen Gegend des französischen Zentralmassivs. Es handelte sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht um eine, sondern um mehrere «Bestien», in jedem Fall um hundeähnliche Tiere, vielleicht um Kreuzungen zwischen Wölfen und sich selbst überlassenen Hirtenhunden. Doch gibt es Quellen, die darauf schliessen lassen, dass die Tiere, die bei den vom König angeordneten Jagden erlegt wurden, echte Wölfe waren.
Die zoologische Wahrheit von Gévaudan wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Daran, dass zwischen 1764 und 1767 mehr als 60 Frauen und mehr als 100 Kinder, meistens beim Hüten von Vieh, von diesen Tieren getötet wurden, gibt es aber wenig zu deuteln. Amtsschreiber protokollierten penibel die Vorkommnisse, die in ganz Europa für Aufsehen sorgten.
Staatsmacht: Vom Wolfsjäger...
Viele Jahrhunderte lang war der Ruf «Die Wölfe kommen» ein Schreckensruf. Wo Wölfe auftauchten, waren staatliche und kirchliche Ordnung schwach oder gänzlich zusammengebrochen. Umgekehrt musste sich der «gute Herrscher» daran bewähren, die Wölfe kurzzuhalten oder möglichst ganz auszurotten. Napoleon erneuerte in Frankreich die von Karl dem Grossen begründete Institution der «Louvéterie». In jedem Departement musste es amtliche Wolfsjäger geben.
Auch in Preussen wurde nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft die Wolfsjagd per königlicher Order zur Staatsangelegenheit. Dieser Krieg wurde schon immer mit äusserster Härte, im 19. Jahrhundert aber auch erstmals mit durchschlagendem Erfolg geführt. Am Ende des Jahrhunderts waren West- und Mitteleuropa weitgehend wolfsfrei. Die Zeitgenossen betrachteten das als Selbstverständlichkeit in jenen modernen Zeiten, die nun angebrochen waren. Niemand trauerte den Wölfen nach.
... zum Wolfsbeschützer
Jetzt kehren sie zurück und treffen zwar immer noch auf eine Menge Vorbehalte, überwiegend jedoch auf eine «Willkommenskultur», die durch strenge europäische Schutzbestimmungen gestützt wird. Kaum jemand will ihnen an den Balg, und sie finden in der wildreichen Kulturlandschaft Mitteleuropas äusserst günstige Lebensbedingungen. Es geht ihnen hier besser als in der «Wildnis», als deren Verkörperung sie vielen gelten. Das Funktionieren staatlicher Ordnung aber muss sich heute daran erweisen, dass ihnen nichts geschieht.
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