Das grösste Geschenk hat die Europäische Zentralbank (EZB) sich zu ihrem 25. Geburtstag selbst gemacht: Exakt 2,007692 Prozent beträgt die durchschnittliche Inflationsrate im Euroraum von Juni 1998 bis heute. Damit hat die Zentralbank ihr selbst gestecktes Ziel erreicht, mittelfristig für stabile Preise in der Währungsunion zu sorgen. Im Schnitt der Jahre zumindest, was aber die Folgen der hohen Inflation jetzt ausblendet.

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25 Jahre: Grund genug für die Währungshüter, ihr Jubiläum gebührend zu feiern. Zwar hat die EZB offiziell erst am 1. Juni 1998 ihre Arbeit aufgenommen, die Zentralbank haben ihre Geburtstagsfeier mit prominenten Gästen aber schon einige Tage vorher, am 24. Mai, zelebriert.

Anders, so ist zu hören, waren die Termine der geladenen Staatschefs und Notenbanker nicht unter einen Hut zu bringen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reihten sich an diesem Tag unter die Gäste auf dem blauen Teppich, genauso die früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi und Jean-Claude Trichet.

Abseits des Festakts allerdings ist es nach einem Vierteljahrhundert an der Zeit, historisch einzuordnen, ob eine der wichtigsten Institutionen Europas ihrem Auftrag gerecht geworden ist. Ob sie in einer Zeit von Krisen und Spannungen nur personell an Gewicht gewonnen hat oder auch über sich hinausgewachsen ist. Und was die Erfahrungen mit der EZB für die Zukunft bedeuten.

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EZB hat Inflation nicht allein im Griff

Ausgerechnet die aktuelle Inflationsrate ist viel weniger schmeichelhaft, als es der Jubilarin lieb sein kann. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Preise um sieben Prozent gestiegen. Und selbst die Währungshüter rechnen nicht damit, dass die Teuerung vor dem zweiten Halbjahr 2025 wieder auf das Niveau von zwei Prozent fallen wird.

Zwar kann die Notenbank mit ihren Zinserhöhungen helfen, den Preisauftrieb zu dämpfen. Allein aber hat die EZB die Inflation nicht im Griff. Lohnabschlüsse, Energiepreise, das Verhältnis zu China: Von der Entwicklung dieser Faktoren hängt die Preisentwicklung mindestens genauso ab. Und natürlich auch, ob die Währungsgemeinschaft einmal mehr von unerwarteten Krisen heimgesucht wird oder nicht.

Die Krisen der vergangenen 25 Jahre haben die Notenbank geprägt. Deshalb kann man den Erfolg oder Misserfolg der vier EZB-Präsidenten im Verlauf dieser Zeit nicht allein an der Inflation messen. Geht es allein um eine niedrige Geldentwertung, dann stünde Mario Draghi die Krone zu. In den acht Jahren seiner Amtszeit bis 2019 lag die Teuerung im Schnitt bei nur 1,2 Prozent.

Noch dichter dran am eigentlichen Inflationsziel der EZB, das mittlerweile bei zwei Prozent liegt, war Draghis Vorgänger Jean-Claude Trichet. Er führte die Institution zwischen November 2003 und Oktober 2011. Die durchschnittliche Teuerungsrate lag in den Jahren seiner Amtszeit bei 2,05 Prozent. Ähnlich gut schnitt der erste EZB-Präsident Wim Duisenberg ab, der in den vier Jahren seiner Amtszeit eine durchschnittliche Inflationsrate von 1,87 Prozent vorweisen konnte. Christine Lagarde ist in diesem Vergleich die Ausreisserin nach oben mit einer Rate von 3,99 Prozent.

Allerdings war der Einfluss der Präsidenten auf die Inflation immer nur begrenzt. Draghi etwa profitierte von einer Zeit weltweit historisch niedriger Inflationsraten. Sein Erfolg war es daher auch nicht, steigende Preise gedämpft, sondern die Deflation, also den Verfall von Preisen und Wirtschaftsleistung, vermieden zu haben. Überhaupt war die Amtszeit aller vier Präsidenten von Krisen geprägt:

Bei Wim Duisenberg war es das Platzen der New-Economy-Blase, ein aus geldpolitischer Sicht eher überschaubares Problem. Trichet hatte mit der grossen Finanz-, Banken- und Immobilienkrise schon deutlich mehr zu kämpfen. Damals kaufte die EZB erstmals Staatsanleihen.

In der Ägide Draghis wurde dieser Tabubruch zur Normalität. Unter dem Schlagwort «whatever it takes» baute er die EZB so stark um wie kein anderer Präsident vor ihm. Anleihekäufe wurden zu einem festen Bestandteil im Werkzeugkasten der Geldpolitik, und der Minuszins wurde für Geschäftsbanken und Sparer zu einer jahrelangen Bürde. Draghi vollzog damit einen konsequenten Bruch mit dem Erbe der Bundesbank, die eine stark regelbasierte Geldpolitik geprägt hatte. Spätestens unter ihm wurde die EZB zu einer Institution, die – je nach Sichtweise – erfrischend pragmatisch oder heillos aktionistisch agierte.

Vorwurf «Kriegsfinanzierung»

Unvergessen ist das Urteil des früheren Bundesbank-Präsidenten Helmut Schlesinger, der mit der Rettungspolitik der Notenbank hart ins Gericht ging und der EZB sogar «Kriegsfinanzierung» vorwarf. Andererseits war es Draghi, der mit seiner unorthodoxen Geldpolitik eine Antwort fand auf die Existenzkrise, der sich die Währungsgemeinschaft in den Jahren 2011 und 2012 ausgesetzt sah. Gleich mehrfach wurde die EZB deswegen aber auch verklagt.

Im Urteil wohlwollender Beobachter hat Draghi die EZB hingegen erst zu einer schlagkräftigen Behörde komplettiert, die als sogenannter «lender of last resort» zum verlässlichen Retter in der Not wird. Allein das Wissen darum, dass es eine Institution gibt, die im Notfall einspringt, macht das Finanzsystem weniger anfällig für Krisen. Sichtbar wird das an den Spreads, also den Zinsunterschieden zwischen den einzelnen Euro-Staaten.

Mit dem Start der EZB vor 25 Jahren herrschte noch die Überzeugung, dass es keine grossen Unterschiede mehr zwischen den Mitgliedern der Währungsunion geben würde. Ein Euro in Italien, so die Annahme, sei genauso viel wert wie ein deutscher Euro. Erst später wurde klar, dass das ein Irrtum war: Das Pleiterisiko von Staaten innerhalb des Euroraums differiert durchaus – und sogar stark.

Bis heute sind die Spreads innerhalb Europas unterschiedlich. Dank der Geldpolitik sind sie aber mittlerweile nicht mehr von Angst oder Spekulanten getrieben, sondern sie spiegeln rationale Unterschiede in den Schuldenquoten und der Haushaltspolitik der Mitgliedsländer. Lagardes grosse Aufgabe ist es nun, die EZB aus der ständigen Krisenpolitik wieder herauszuführen und sie gleichzeitig fit zu machen für die digitalisierte Welt, in der es noch stärker als früher auf Tempo, Vertrauen und Verlässlichkeit ankommt.

Ein Kuchen darf auf keinem Geburtstag fehlen. Im Bild schneiden Christine Lagarde, Jean-Claude Trichet und Mario Draghi den Jubiläums-Schmaus an.

Ein Kuchen darf auf keinem Geburtstag fehlen. Im Bild schneiden Christine Lagarde (Rechts), Jean-Claude Trichet (Links) und Mario Draghi (Mitte) den Jubiläums-Schmaus an.

Quelle: Keystone

Die Gratwanderung der EZB

Wie sehr die EZB ihren Einfluss in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten ausgeweitet hat, offenbart sich plastisch an der Bilanzsumme, die sich zwischen 2005 und 2022 fast verneunfacht hat. Aber auch die Zahl der Mitarbeiter ist ein Gradmesser für die gewachsene Bedeutung. Waren es zum Start gerade einmal 402 Beschäftigte, sind es mittlerweile 4136, also zehnmal so viele. Was allerdings auch daran liegt, dass die EZB ab 2014 die Überwachung der Banken im Euroraum mit übernommen hat.

Eine Aufgabe, die die EZB gemeinsam mit den dabei weiterhin federführenden nationalen Notenbanken erfüllt, ist die Bargeldversorgung für die 342 Millionen Bürger des Euroraums. Aktuell sind 29 Milliarden Euro-Banknoten im Wert von 1,6 Billionen Euro im Umlauf, das liegt knapp unter dem Rekordwert von Juli 2022.

Zu den Herausforderungen der EZB für die Zukunft gehört es, dabei zwei schier unvereinbare Pole zusammenzubringen: das berechtigte Interesse der Bevölkerung, auch weiterhin bar bezahlen zu können. Und ein zunehmend digitalisiertes Geldsystem mit Kryptowährungen und digitalen Bezahlmechanismen, in dem die Notenbank trotzdem die Hoheit über ihre Währung behalten will. Es wird, so viel steht fest, auch hier auf einen Kompromiss hinauslaufen.

Genau solche Kompromisse haben die ersten 25 Jahre der EZB stark geprägt. Vom Start weg musste die Notenbank unterschiedliche Wirtschaftsräume und divergierende Vorstellungen über Inflation und Schuldentoleranz unter ein Dach bringen und dabei den Euro zu einer relevanten Währung machen. Letzteres ist ihr gelungen: Aktuell notiert der Euro bei 1,08 Dollar und damit auf einem Niveau wie vor 25 Jahren. Auch das ein Grund zum Feiern.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel «Die heikle Bilanz der EZB».