Die US-Notenbank Federal Reserve veröffentlicht regelmässig Zinsprognosen ihrer Führungsmitglieder in einem anonymisierten Punktdiagramm - im Fachjargon «Dot Plot» genannt. Zweifellos seien Dot Plots «ein faszinierendes Instrument» für die Kommunikation, sagte Nagel am Dienstag laut Redemanuskript an der US-Eliteuniversität Harvard und fügte an: «Angesichts der vorherrschenden Evidenz sehe ich jedoch keinen zwingenden Grund für die Einführung von Punktdiagrammen für das Eurosystem.»
Wenn es anonyme Punktdiagramme der Mitglieder des EZB-Rats gäbe, würden Medien und Märkte wahrscheinlich gleichermassen versuchen, auch einzelne Mitglieder jedem Datenpunkt zuzuordnen, sagte Nagel. Der Hauptunterschied zwischen Reden und Dot Plots bestehe darin, dass EZB-Ratsmitglieder freiwillig Reden hielten. Im Gegensatz dazu würden sie bei Punktdiagrammen verpflichtet, regelmässig ihre Ansicht zur künftigen Entwicklung der Zinssätze zu äussern: «Und dies könnte möglicherweise die Unabhängigkeit des EZB-Rats beeinträchtigen.»
Er sei jedoch der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie Unsicherheiten in den makroökonomischen Projektionen berücksichtigt würden, verbessert werden sollte. Eine Option sei, die Kommunikation der bestehenden Unsicherheitsmasse zu verbessern. Eine andere Möglichkeit könnte die Entwicklung neuer Massnahmen sein, wie zum Beispiel Szenario- und Sensitivitätsanalysen sowie verbesserte Fächer-Diagramme: «Wir müssen die Vor- und Nachteile jedes Ansatzes sorgfältig abwägen», sagte Nagel.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde rechnet damit, die Strategieüberprüfung in der zweiten Jahreshälfte 2025 abzuschliessen. Auch sie hat bereits klargemacht, dass die EZB keine eigenen Zinsprognosen nach dem Muster der US-Notenbank veröffentlichen will. EZB-Direktorin Isabel Schnabel hatte im April in einer Rede allerdings die Idee vorgetragen, eine Art Dot Plot der Hüter des Euro zum künftigen Zinspfad zu veröffentlichen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte zuletzt 2021 ihre geldpolitische Strategie vor dem Hintergrund der langanhaltenden Niedrigzinsphase überarbeitet und ihr Inflationsziel für den Euroraum neu definiert. Bis dahin hatte sie mittelfristig einen Wert unterhalb, aber nahe zwei Prozent angestrebt. Seit der Überprüfung peilt sie mittelfristig ein symmetrisches Inflationsziel von genau zwei Prozent an. (reuters/hzb/ps)