Vincenzo Vedda, wo stehen wir im Konjunkturzyklus in Europa und in den USA?

Vor zwölf Monaten hätte ich noch gesagt, wir sind im Late Cycle, also am Ende des Zyklus. Jetzt würde ich sagen, wir befinden uns wahrscheinlich eher in der Mitte des Zyklus.

Das Soft Landing scheint gelungen zu sein. Wir erwarten vernünftige Wachstumszahlen sowohl in den USA als auch in Europa. So gesehen stehen wir vielleicht sogar schon am Anfang eines neuen Zyklus. Ich glaube, mittlerweile ist es eher schwierig geworden, das Geschehen in klassische Zyklen einzuteilen.

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Die USA stehen wirtschaftlich extrem gut da, Europa humpelt hinterher. Sie sind als globaler Investmentchef bei DWS aber der Meinung, dass Europa trotz Massenentlassungen, teurer Energie et cetera gar nicht so schlecht dasteht. Warum?

Wenn man sich das Wirtschaftswachstum anschaut, wächst Europa deutlich weniger als die USA. Wir bei DWS gehen von unter 1 Prozent Wachstum im Euro-Raum aus. Aber: Es ist bereits sehr viel Negatives eingepreist.

Wenn man sich die Bewertungen anschaut, steht Europa im langfristigen Durchschnitt, und die USA stehen weit über dem langfristigen Durchschnitt.

Was heisst das?

Das heisst, die Märkte sind komplett anders bewertet. In den USA ist viel Euphorie eingepreist, in Europa ist das nicht der Fall.

Wir glauben, das wirkliche Thema dieses Jahres ist Diversifikation, besonders wenn man in hochkonzentrierten Märkten unterwegs ist. Schon allein durch einen gleichgewichteten S&P 500 verbessert sich die Diversifikation deutlich.

Sie sprechen den KI-Hype respektive den Tech-Hype an, der ja für extreme Entwicklungen in den Märkten gesorgt hat.

Genau. Der KI-Hype führt definitiv dazu, dass viel Fantasie eingepreist wird bei grossen Tech-Namen. Man muss aber sagen: Es ist eben nicht nur Fantasie. Das Gewinnwachstum der Magnificent Seven liegt bei über 30 Prozent, und das schon seit zwei Jahren.

Aber …

Aber, wie wir jüngst am Beispiel des chinesischen AI-Modells Deepseek gesehen haben: Die Erwartung, sich allein durch grosse Investitionen zum Gewinner von AI zu machen, geht offensichtlich nicht auf. Da haben wir bei DWS ein grosses Fragezeichen.

Meistens sind nicht die etablierten Unternehmen die Gewinner der Technologie, sondern oft neuere Unternehmen. Wir würden nicht ausschliesslich auf die jetzt führenden Unternehmen, die Early Winners, setzen.

Sehen Sie eine Analogie zur Dotcom-Blase?

Ja, die Dotcom-Blase-Analogie besteht. Firmen wie Nortel Networks oder Cisco, die zu den zehn grössten Unternehmen in dieser Zeit gehörten und das Equipment fürs Internet produzierten, dachten, sie würden das Rennen machen. Sie waren damals schliesslich das, was heute etwa Nvidia ist, die Chips für die AI-Modelle herstellt.

Zwar ist Cisco auch heute noch ein grosses Unternehmen. Doch die Metas und Alphabets, die später kamen, haben wesentlich mehr vom World Wide Web profitiert.

Die Lehre daraus: Nicht immer gehen Unternehmen, die das erste Businessmodell haben, als grösste Gewinner hervor.

Zur Person Vincenzo Vedda

Vincenzo Vedda ist Global Chief Investment Officer (CIO) von DWS.

Die Leitzinsen sinken weltweit, in der Schweiz rechnen wir auch schon mit Negativzinsen. Welche Entwicklungen erwarten Sie aufgrund der sinkenden Leitzinsen jetzt?

Zum einen erwarten wir niedrigere kurzfristige Zinsen im Euro-Raum und in den USA. Ich glaube, gerade in den USA gibt es einige Unsicherheiten.

Man muss dabei zwischen kurzfristigen und mittel- bis langfristigen Zinsniveaus unterscheiden. Wir glauben, dass die mittel- bis langfristigen Zinsen stabil bleiben, während es am kurzen Ende noch runtergehen könnte. Dementsprechend ergibt sich für Anlegerinnen und Anleger schon die Frage, ob man sich jetzt nicht sozusagen einen höheren Zinssatz einloggt.

Wir erwarten, dass die Inflation im Euro-Raum Richtung 2 Prozent geht. In den USA wird sie gemäss unseren Erwartungen mit 2,4 Prozent etwas höher bleiben. Aber wir haben auch höhere Nominalzinsen. Das heisst, wir erwarten weiterhin positive Realzinsen, aber definitiv niedrigere am kurzen Ende. Das entspricht einer Normalisierung der Kosten.

Welche Auswirkungen haben diese unterschiedlichen Zinsniveaus?

Das unterschiedliche Niveau zwischen den USA und dem Euro-Raum ist eingepreist.

Die höheren Zinsen haben die Wirtschaft abgebremst. Nun können die Zinsen wieder gesenkt werden. In den USA ist die Dynamik eine andere. Wie gesagt bleibt die US-Inflation höher – und jetzt mit Trumps Zollanhebungen wirkt sich dies zusätzlich inflationär aus. Die grosse Frage bleibt jetzt, ob es Zweitrundeneffekte gibt, etwa bei den Löhnen. Es besteht eine gewisse Angst vor einer hartnäckigen Inflation.

Welche Risiken sehen Sie aufgrund der geopolitischen Spannungen?

Zuerst ist es mir wichtig, festzustellen: Leider berücksichtigen Märkte nicht das menschliche Leid, das mit Spannungen und kriegerischen Auseinandersetzungen zusammenhängt. Märkte schauen emotionslos nur auf das, was sich fundamental verändert. Und vor allem, was sich bei Gewinnen der Unternehmen verändert. Viele der geopolitischen Ereignisse führen aber nicht zu fundamentalen Veränderungen der Unternehmensgewinne oder der wirtschaftlichen Lage. Und solange das der Fall ist, sehen wir eigentlich immer, dass kurzfristig eine Risikoprämie eingepreist wird, die sich aber auch nach gar nicht so langer Zeit wieder abbaut.

Dazu gibt es viele Beispiele: Selbst nach 9/11 hat man schon nach drei bis sechs Monaten gesehen, dass der S&P 500 mehr oder weniger die Risikoprämie ausgepreist hatte.

Schauen wir nach China. Helfen die in Aussicht gestellten fiskalpolitischen Massnahmen als Kur gegen die strukturellen Probleme? Oder liegt das Problem tiefer?

In China haben wir zwei Themen. Es gibt zyklische Themen, und dann gibt es strukturelle Themen. Wenn Chinas Wirtschaft gut läuft, heisst das noch lange nicht, dass man als internationaler Investor daran teilhaben kann.

Die Demografie ist ein strukturelles Problem, das sich nicht einfach lösen lässt. Und die Immobilienblase führt zyklisch zu grösseren Problemen. Zudem haben wir immer noch den Produktionszyklus, der weltweit noch nicht richtig angelaufen ist. All diese Themen beeinflussen das Wachstum.

Was bedeutet all dies für die wirtschaftliche Entwicklung in China?

Wir glauben trotzdem, dass China mit 4,2 Prozent wachsen wird. Da haben wir auch schon gewisse Zölle aus den USA eingepreist. Die Produktivität kann sich noch deutlich steigern.

Es sind auch noch viele Arbeitskräfte im Agrarsektor tätig, mehr als in anderen Ökonomien.

Ausserdem könnte die Innovation des privaten Segments viel Auftrieb geben. Deepseek war hier ein sehr, sehr gutes Zeichen: Der private Sektor Chinas lebt, auch wenn er totgesagt wurde.

Deepseek war sozusagen ein Weckruf?

Ja. Ich finde es aufgrund der vielen Fragestellungen noch ein bisschen früh, um China zu pushen. Besonders weil dort Regulatoren oft auch Gewinne wegregulieren. Deswegen muss man, glaube ich, als Investor immer noch vorsichtig sein.

Schauen wir noch ins bevölkerungsreichste Land der Erde, nach Indien. Was erwarten Sie hier?

Was Indien angeht, ist das eine Bewertungsthematik. Ich glaube, wir sind von den strukturellen Trends in Indien her sehr gut aufgestellt, die Demografie ist top, wir sehen Investitionen.

Wie immer ist der Hype sehr gross, und damit sind die Bewertungen sehr hoch. Sie sind jetzt etwas gesunken, und es gibt sicherlich gute Momente, in Indien einzusteigen.

Was raten Sie Anlegern und Assetmanagern in unsicheren Phasen mit wahrscheinlich hoher Volatilität?

Wirkliche Diversifikation ist ein Muss. Einfach einen MSCI World zu kaufen, ist heutzutage keine echte Diversifikation mehr. Diese Feststellung ist mir wichtig. Wir haben konzentrierte Märkte. Konzentrierte Märkte sind riskante Märkte.

Können Sie das anhand eines Beispiels weiter ausführen?

Die zehn grössten Werte des S&P 500 machen ganze 37 Prozent der gesamten Marktkapitalisierung des Index aus. Das ist ein historischer Rekord. Selbst zum Höhepunkt der Internetblase waren es unter 30 Prozent. Und selbst damals bestanden die Top Ten nur aus fünf Tech-Werten. Heute sind es neun.

Das heisst, mit dem Kauf des S&P 500 deckt man nicht die gesamte US-Wirtschaft ab, sondern steckt einen Drittel seines Geldes in nur neun Firmen des gleichen Sektors. 

Und aus der globalen Perspektive betrachtet?

Das macht es nicht besser: Auch wenn die US-Wirtschaft nur rund ein Viertel des Welt-BIPs ausmacht, entfallen, grob gesagt, rund zwei Drittel des Handels und des Marktwerts von Anleihen und Aktien auf die USA. Kurzum: Wer den MSCI World kauft, ist den Risiken, die lediglich die grossen US-Tech-Werte tangieren, deutlich stärker ausgesetzt, als es ein globaler Aktienindex vermuten lässt. Ein gleichgewichteter Index kann da helfen. Oder eine eigene Zusammenstellung regionaler Indizes.