Sie müsse auf ihrem Weg allerdings mit grosser Umsicht vorangehen, sagte das Mitglied des sechsköpfigen Führungsteams der EZB in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. «Wir stimmen alle darin überein, dass es noch Spielraum gibt, die Zinsen nach unten hin anzupassen», sagte Cipollone. «Aber wir müssen extrem vorsichtig sein», fügte er hinzu. Er wolle in die Zinssitzung im März mit einer offenen Einstellung gehen, die neuen Wirtschaftsprognosen sehen und hereinkommende Daten verarbeiten.
Das nächste Zinstreffen der Währungshüter findet am 5. und 6. März in Frankfurt statt. Zu der Sitzung werden den Währungshütern auch neue Wirtschaftsprojektionen der Notenbank-Volkswirte vorliegen, die bei den Zinsentscheidungen stets eine wichtige Rolle spielen. Die Euro-Wächter hatten zuletzt Ende Januar die Zinsen gesenkt und den am Finanzmarkt massgeblichen Einlagensatz um einen viertel Prozentpunkt auf 2,75 Prozent nach unten gesetzt. Es war bereits die fünfte Zinssenkung seit Juni 2024. Die Fahrtrichtung sei klar, hatte Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde nach dem Beschluss gesagt.
«Ich möchte nicht schwer fassbar wirken, aber die Unsicherheit ist so hoch, dass alles passieren kann», sagte Cipollone. Es sei wichtig, dass man von Sitzung zu Sitzung vorgehe und abhängig von den Daten entscheide. «Aber wir alle stimmen auch darin überein, dass wir uns noch in einem restriktiven Bereich befinden», merkte er an. Zinsen gelten dann als restriktiv, wenn sie eine Volkswirtschaft bremsen. Die EZB sei fast am Ziel. Für Cipollone trifft daher zu: «Je näher man an das Ziel kommt, umso weniger muss man restriktiv bleiben.»
Aus Sicht des EZB-Direktors hat sich die Lage der Wirtschaft im Währungsraum seit der Dezember-Zinssitzung nicht grundsätzlich geändert. «Das allgemeine Verständnis, wohin wir gehen, ist da, die Fundamentaldaten haben sich nicht geändert, daher erwarte ich keinen grossen Richtungswechsel.» Die Annäherung an das Inflationsziel passe zu einem absteigenden Zinspfad. Alle hereinkommenden Informationen wiesen darauf hin, dass die EZB 2025 an ihr Ziel gelange. Die EZB strebt 2,0 Prozent Inflation für den Währungsraum an.
Die Inflation hat sich zwar im Januar auf 2,5 Prozent leicht erhöht von 2,4 Prozent im Dezember. Aber bislang geht die EZB davon aus, dass die Teuerung ab dem zweiten Quartal dieses Jahres nachhaltig um ihr 2,0-Prozent-Ziel herumpendeln wird. Am Finanzmarkt wird derzeit noch mit mindestens drei Zinssenkungen der Euro-Wächter in diesem Jahr gerechnet.
Sorge vor Handelskrieg der USA mit China
Sorgen bereitet Cipollone die Zollpolitik des US-Präsidenten Donald Trump, die auch Europa zusetzen könnte. Noch mehr treibt Cipollone ein möglicher Handelskrieg zwischen den USA und China um. «Was mich mehr beunruhigt, ist, ob Trump einen kompletten Handelskrieg mit China beginnt.» Das sei eine ernstere Bedrohung, da die Volksrepublik über 35 Prozent der weltweiten Fertigungskapazitäten besitze. «Handelsbarrieren werden China zwingen, ihre Waren anderswo zu verkaufen und der Wettbewerb mit China könnte uns ernsthaft bedrohen», warnte er. Vor wenigen Tagen hatten die USA Sonderzölle von zehn Prozent auf Importe aus China verhängt. Die Volksrepublik antwortete ihrerseits mit Zöllen gegen US-Waren.
Bei US-Zöllen gegen Europa seien die Auswirkungen womöglich nicht so gross, unmittelbar betroffen sei dann vor allem das Wachstum, sagte Cipollone. «Es könnte sein, dass europäische Unternehmen, um ihren Marktanteil zu verteidigen, bereit wären, einen Teil ihrer Marge zu opfern, um im Markt zu bleiben.» Das sei schon oft geschehen. Europäische Firmen besässen grosse Fähigkeiten zur Anpassung. Eine Abschwächung des Euro gegenüber dem US-Dollar könne womöglich einen Teil der Belastungen auffangen. Mit einer Rezession rechnet Cipollone derzeit nicht. «Wir erleben vielleicht keinen Boom, aber eine Rezession erwarte ich überhaupt nicht.» (reuters/hzb/ps)