Ende 2023 hatten wir uns an der Lieblingsübung des verstorbenen amerikanischen Investors Byron Wien versucht und die zehn wichtigsten Ereignisse und Überraschungen ermittelt, welche die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft im neuen Jahr beeinflussen könnten. Zur Jahresmitte ziehen wir eine Zwischenbilanz: Welche der prognostizierten «Top-10-Überraschungen 2024» sind tatsächlich schon eingetreten? Und mit welchen Ereignissen, die in der ersten Jahreshälfte stattgefunden haben, hatte niemand gerechnet? 

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Es gab im ersten Halbjahr echte Überraschungen, mit denen niemand gerechnet hatte: 

  • Die Fed hielt die Zinsen konstant: Zu Beginn des Jahres rechnete die Mehrheit der Ökonomen mit Zinssenkungen der Fed im Jahr 2024, wobei die erste im März erfolgen sollte. Die Widerstandsfähigkeit der US-Wirtschaft und die hartnäckig hohe Inflation zwangen die Fed jedoch, die Lockerung der Geldpolitik zu verschieben. Derzeit rechnet der Markt mit weniger als zwei Zinssenkungen im Jahr 2024. Trotz der aggressiven Haltung der Fed notieren der S&P 500 und viele andere Märkte weltweit auf neuen Allzeithochs.

  • Ein sehr ruhiger Markt: Während viele Analysten eine wackelige erste Jahreshälfte erwartet hatten, blieben die Märkte überraschend ruhig. Es ist nun fast 340 Tage her, dass der S&P 500 einen Rückgang von 2 Prozent oder mehr verzeichnete – die längste Zeitspanne seit Februar 2018. Derweil bewegt sich der VIX (der «Angst-Index») in der Nähe von Rekordtiefs.

  • Der US-Aktienmarkt bleibt sehr «eng»: Die KI-Euphorie sorgt für anhaltenden Rückenwind bei Technologie- und Wachstumswerten, die den Rest des Marktes weiterhin hinter sich lassen. Die «Magnificent Seven» haben zum ersten Mal offiziell eine Marktkapitalisierung von insgesamt 15 Billionen Dollar überschritten. Der übrige Markt hinkt hinterher: Der S&P 500 ist um fast 15 Prozent gestiegen, während der gleich gewichtete S&P nur um magere 5 Prozent zugelegt hat.

  • Versorgungsunternehmen werden zu einem KI-Titel: Obwohl der Versorgungssektor ein kapitalintensiver Sektor ist und daher empfindlich auf hohe Zinsen reagiert, war er 2024 bisher der Sektor mit der besten Performance. Der Grund? KI und Rechenzentren treiben den Stromverbrauch in den USA nach einem Jahrzehnt mit stagnierender Nachfrage in die Höhe. Infolgedessen zeigt der Versorgungssektor eine starke Performance, insbesondere die unabhängigen Stromerzeuger.  

  • Der Aufschwung chinesischer Aktien: Die meisten Vermögensverwalter starteten mit einer sehr pessimistischen Sichtweise und – wenn überhaupt – einem geringen Engagement für chinesische Aktien ins Jahr. Trotz der anhaltenden Probleme auf dem Immobilienmarkt haben über den Erwartungen liegende makroökonomische Zahlen zumindest im ersten Quartal einen starken Aufschwung bei chinesischen Aktien ausgelöst und die Short-Positionen überrascht. 

  • Der Zusammenbruch des Yen: Der japanische Yen erreichte im ersten Halbjahr einen bedeutenden Tiefstand und sank zum ersten Mal seit 1990 auf 160 gegenüber dem Dollar. Die Bank of Japan (BoJ) steht vor einem komplexen wirtschaftlichen Dilemma: Sie muss die übermässige Verschuldung und den Inflationsdruck mit einer akkommodierenden Geldpolitik in den Griff bekommen.

  • Rohstoffe kehren mit aller Macht zurück: Die Gefahr einer Eskalation im Nahen Osten führte zu einem starken Anstieg der Rohstoffpreise. Der Bloomberg Commodities Index verzeichnete in den ersten vier Monaten des Jahres einen starken Anstieg, bevor er im Mai/Juni wieder leicht zurückging. Die US-Öl-Futures überstiegen die Marke von 85 Dollar pro Barrel, nachdem die Spannungen im Nahen Osten eskaliert waren, die Nachfrageprognosen nach oben korrigiert worden waren und die Risiken von Versorgungsunterbrechungen zugenommen hatten. Kupfer kletterte um rund 14 Prozent auf ein Zweijahreshoch von 10’000 Dollar pro Tonne. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Unsicherheit wurde Gold seiner Rolle als sicherer Hafen und Inflationsschutz gerecht. Es erreichte mit über 2400 Dollar je Unze ein Rekordniveau. Darüber hinaus hat die chinesische Zentralbank aktiv Gold akkumuliert, um ihre Reserven weg vom Dollar zu diversifizieren.

  • Macron forderte eine vorgezogene Neuwahl des französischen Unterhauses: Die jüngsten Europawahlen haben vor allem eine Botschaft vermittelt: Die Wähler fühlen sich zunehmend von etablierungsfeindlichen, populistischen und rechtsextremen Parteien angezogen, die nun rund 25 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament innehaben werden. In Frankreich hat dieser Aufschwung sogar zu vorgezogenen Parlamentswahlen geführt. Sollte das Rassemblement National dabei ähnlich wie bei den Europawahlen abschneiden, könnte sich das Risiko für Frankreichs Anleihen aufgrund potenzieller Änderungen in der Finanzpolitik und anhaltender politischer Unsicherheit erhöhen.

Über den Autor

Charles-Henry Monchau ist Chief Investor Officer der Bank Syz.
 

Drei der vorausgesagten Überraschungen traten (zumindest teilweise) ein:

  • Was wäre, wenn die Inflation im Jahr 2024 wieder steigen würde? 
    Während der Disinflationstrend in den meisten G7-Ländern anhält, hat sich die Inflation in den USA erstaunlich robust gezeigt, insbesondere im Dienstleistungssektor. So ist beispielsweise der Supercore CPI (Kerninflation ohne Wohnungsbau) drei Monate in Folge gestiegen (bevor er im Mai schliesslich pausierte). Die nächste Phase der Inflationssenkung wird schwieriger sein als der anfängliche Rückgang nach dem Höchststand von 2022, ausser sie wird durch eine geringere Verbrauchernachfrage unterstützt werden. Wir gehen davon aus, dass dies in Zukunft der Fall sein wird.

Quelle: Bloomberg, Der Kobeissi-Brief

Quelle: Bloomberg, der Kobeissi-Brief

Quelle: ZVG
  • Ein dritter Kandidat tritt bei den US-Wahlen an 
    Anfang April hat sich der unabhängige Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy Jr. als Joker für die Wahl 2024 entpuppt. Er zieht eine bunte Mischung ideologisch unterschiedlicher Unterstützer an, sammelt haufenweise Geld und zieht rechtliche Angriffe der Demokraten und verbale Angriffe von Donald Trump auf sich. Die Demokraten werden seit dem Jahr 2000 von Drittkandidaten heimgesucht, als Ralph Nader, der für die Grüne Partei antrat, teilweise dafür verantwortlich gemacht wurde, dass Al Gore die Wahl verlor. Die Befürchtungen der Demokraten sind in diesem Jahr besonders akut, da Umfragen darauf hindeuten, dass die Basis der begeisterten Unterstützung von Donald Trump fester ist als die von Joe Biden.

  • Bitcoin steigt auf über 100’000 Dollar und landet in den Geldbörsen der meisten Privatbanken  
    Dies geschah nicht, denn der Bitcoin-Kurs ging, nachdem er im März 73’000 Dollar erreicht hatte, wieder zurück. Nichtsdestotrotz wurde dieses Jahr bisher von Bitcoin-Schlagzeilen dominiert, insbesondere seit der Einführung des Bitcoin-Spot-ETF Mitte Januar. Der Erfolg der Spot-ETFs ist unübertroffen, und der Blackrock BTC ETF hat so schnell wie noch kein anderer jemals 10 Milliarden Dollar an verwaltetem Vermögen (AUM) erreicht. Die massiven Zuflüsse in diese ETFs haben in Verbindung mit der medialen Aufmerksamkeit für Bitcoin dazu geführt, dass der Kurs des Bitcoins gegenüber dem Dollar und vielen anderen Währungen neue Höchststände erreicht hat. Starke Katalysatoren und eine wachsende institutionelle Nachfrage haben zu wilden Spekulationen über die Kursziele für den Rest des Jahres geführt; so oder so dürfte Bitcoin in den kommenden Monaten weiterhin für Schlagzeilen sorgen.

Grafik
Quelle: ZVG

In der zweiten Jahreshälfte werden wir sehen, ob weitere vorausgesagte Top-10-Überraschungen noch eintreten werden. Wir erwarten ausserdem, dass sich in den letzten Monaten des Jahres 2024 noch manch Unbekanntes ereignen wird.

 

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