Frau Weisser, Sie gelten als Expertin in Sachen Altersvorsorge. Wie kam es dazu?
Ich vermute, dass ich dazu geboren bin. Ich habe meiner älteren Schwester schon als Kind gesagt, sie könne doch nicht ihr ganzes Taschengeld ausgeben, sie müsse es für ihre Zukunft behalten. Sich Gedanken über die Zukunft zu machen, ist ein Teil meiner Persönlichkeit, und ich habe schon damals versucht, Menschen zu motivieren, sich ebenfalls Gedanken über ihre Zukunft zu machen und lieber heute etwas zu sparen, um dann später mehr Freiräume und mehr Möglichkeiten zu haben.
Die Mehrheit der Menschen hat die psychologische Eigenschaft, das Heute und Jetzt höher zu gewichten als die Zukunft. Sie möchte also lieber heute ein Eis essen als in zwanzig Jahren. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich möchte sicherstellen, dass ich in zwanzig Jahren ein Eis essen kann, und bin zu diesem Zweck gerne bereit, heute darauf zu verzichten.
Warum führte Sie Ihre Karriere ins Banking?
Ich bin Mathematikerin und Ökonomin und über das Research ins Banking gekommen. Ich habe lange im Chief Investment Office der UBS Wirtschafts- und Finanzmarktfragestellungen analysiert und Studien verfasst. Ursprünglich war mein Fokus nicht auf der Altersvorsorge, auch wenn ich schon im Studium in einem Statistikinstitut in Deutschland gearbeitet habe, in dem Altersvorsorgesysteme analysiert wurden. Die UBS hat ungefähr vor zwölf Jahren begonnen, dem Thema Vorsorge mehr Gewicht zu geben, auch aus einer Research-Perspektive.
Weil ich wusste, dass mir das Thema liegt, habe ich dann von Anfang an das Research zur Altersvorsorge begleitet. Ich finde das Thema Vorsorge wahnsinnig spannend und eine sehr wichtige Fragestellung für unsere Kundinnen und Kunden.
Sie sind dann wohl eher die Ausnahme, oder? Denn gerade jungen Menschen haftet das Klischee an, dass sie sich sehr ungern mit der Altersvorsorge befassen. Ist das, mit Blick auf die Schweiz, denn tatsächlich so?
Ich würde sagen, es gibt drei Gruppen. Zu der ersten Gruppe gehören die Sparfüchse – ich gehöre wohl auch zu dieser Gruppe. Die Sparfüchse machen sich Gedanken über die Zukunft. Das sind ungefähr 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum. Sie sparen bereits als Kinder, und als junge Erwachsene investieren sie. Diese Gruppe kümmert sich also sehr selbstmotiviert um ihre finanzielle Zukunft.
Dann gibt es eine zweite Gruppe – es ist ein relativ kleiner Teil der übrigen etwa 85 Prozent. Sie sind nicht selbstmotiviert in Sachen Finanzen, aber sie erhalten eine gewisse Guidance, beispielsweise durch die Familie, etwa indem die Eltern, eine Lehrkraft oder ein Arbeitskollege raten, ein Anlagekonto zu eröffnen, in das regelmässig eingezahlt wird. Ich nenne diese Gruppe die «Vernünftigen» – sie investieren, weil sie überzeugt wurden, dass dies wichtig und vernünftig ist, auch wenn sie keinen grossen Elan dafür aufbringen.
Und dann gibt es den grossen Rest, der sich nicht damit beschäftigt. Die Aufteilung ist interessanterweise für alle Altersgruppen ähnlich. Es ist einfach so, dass mit höherem Alter, wenn die Pensionierung näher rückt, mehr Menschen dazu motiviert werden, sich um die Altersvorsorge zu kümmern.
Um 85 Prozent muss sich der Staat also Sorgen machen?
In den 85 Prozent sind diejenigen, die über die Zeit einen Impuls bekommen haben, der ausgereicht hat, dass sie sich darum kümmern, und auch diejenigen, bei denen das nicht so war. Die andere Frage ist: Was ist die Rolle des Staates? Das ist eine Frage der politischen Anschauung. In der Schweiz ist es jedenfalls so, dass der Staat dafür verantwortlich ist, Altersarmut zu verhindern. Diese ist so definiert, dass die notwendigen materiellen Grundlagen gegeben sind. Das heisst, man hat ein Dach über dem Kopf, die Wohnung ist beheizt, man hat genug zu essen, man hat genug Kleider. Der Staat ist aber eben nicht dafür verantwortlich, den Lebensstandard jedes Einzelnen aufrechtzuerhalten. Nur wenn jemand immer eine 100-Prozent-Stelle hatte, ist das staatliche System darauf ausgerichtet, den Lebensstandard ungefähr zu erhalten, und das auch nur bis zu einem Jahreslohn von ungefähr 88’000 Franken, darüber hinaus nicht. Aber das Kriterium, immer 100 Prozent gearbeitet zu haben, erfüllen sehr viele Menschen nicht.
Gibt es eine Art Kipppunkt, an dem man einsehen muss: Ich habe mich zu spät um meine Vorsorge gekümmert?
Es ist nie zu spät, sich um die eigene Vorsorge zu kümmern. Denn es gibt immer ganz viele Spielräume. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Freundin von mir, 55-jährig, geschieden, hat während 25 Jahren drei Kinder grossgezogen und muss nun wieder in den Arbeitsmarkt zurück. Sie hat zugleich aber nicht die Möglichkeit, viel zu verdienen.
Mein Tipp an sie war, ein so hohes Arbeitspensum wie möglich zu nehmen und auch die Lebenshaltungskosten möglichst zu reduzieren, etwa durch das Wohnen in einer WG, womit sie anstatt 2500 Franken nun 700 Franken Miete zahlt. Wenn sie diese Differenz über zehn Jahre spart und investiert und vielleicht noch bis 67 statt 65 arbeitet – das muss auch nicht in Vollzeit sein –, kann sie viel wiedergutmachen.
Es gibt keinen Punkt, an dem ich sage, jetzt ist alles völlig verloren.
Was man sicher nicht machen sollte, ist beispielsweise, das Pensionskassenkapital als Kapital zu beziehen, es den Kindern zu schenken und dann Ergänzungsleistungen zu beantragen. Das ist nicht erlaubt, und die Ergänzungsleistungen werden dann verwehrt.
Ihr Beispiel spricht Kinder an – tatsächlich wird die Kindererziehung in unserem System völlig vernachlässigt. Auch volkswirtschaftlich betrachtet straucheln viele Länder mit ihren Renten – das Konzept kommt ja auch noch aus einer Zeit, in der die Lebensrealität eine andere war. Macht es denn überhaupt Sinn, dass wir dieses Rentensystem einfach immer so weiterbetreiben und irgendwie versuchen, an einzelnen Schrauben zu drehen? Oder ist das ein Versuch, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist?
Das kommt tatsächlich zum Kern der Sache. Denn das Rentensystem ist aufgebaut für einen Lebensstil und eine Lebensführung, die es heute nicht mehr gibt. Das spiegelt sich in der AHV wider, in die man einzahlt, um später eine Rente zu bekommen. Es macht den Anschein, als gäbe es nur einen Generationenvertrag: Ich zahle Geld ein, ich bekomme Geld zurück.
Aber tatsächlich gibt es in jedem Umlageverfahren immer zwei Generationenverträge. Und zwar ist der erste Vertrag jener, dass man grossgezogen wird, das heisst man bekommt die Erziehung von den Eltern, die Infrastruktur und eine Ausbildung geschenkt. Im Gegenzug zahlt man für die Eltern in die Rente ein. Das heisst, es gibt zwischen den aktuell Erwerbstätigen und deren Eltern Leistung und Gegenleistung. Und dann kommt das zweite Umlageverfahren zwischen den aktuell Erwerbstätigen und deren Kindern. Die aktuell Erwerbstätigen ziehen die Kinder gross, geben ihnen eine Ausbildung und Infrastruktur, und im Gegenzug erhalten sie eine Rente finanziert – und übrigens auch viele andere Umlagen.
Und das verkennt die AHV: dass Kinder geboren und grossgezogen werden müssen, um eine Rente im Umlageverfahren zu erhalten.
Nehmen wir mal das Gedankenexperiment, dass wir alle aufhören, Kinder zu bekommen. Wer zahlt dann die AHV? Eben, keiner. Es funktioniert nicht ohne Nachkommen. Doch diese Bedingung, dass eine Generation von Nachkommen erst mal geboren und grossgezogen werden muss, steht nicht in der AHV-Gesetzgebung drin. Man müsste aber eigentlich sowohl seinen Vertrag gegenüber den Eltern erfüllen als auch den Vertrag gegenüber der Kindergeneration. Und erst dann hat man ein Recht auf die zweite Leistung, also auf eine AHV-Rente.
Die Lebensführung hat sich stark geändert. Heute hat ein Paar nicht mehr 2,5 Kinder, sondern gerade noch 1,3. Deshalb müssen die expliziten Umlageverfahren wie die AHV und die weiteren Umlageverfahren der Staatsfinanzierung überdacht werden. Denn aktuell werden Leistungen von Kindern versprochen, die nicht geboren wurden. Es bräuchte ganz viele junge Menschen, die das zahlen, was sich die erwachsenen Generationen versprechen.
Wie liesse sich das Problem denn lösen?
Es müssten beide Generationenverträge in das Vorsorgesystem eingebaut werden. Das heisst, um eine Leistung aus dem Umlageverfahren zu erhalten, muss jemand sowohl die Gegenleistung an die Elterngeneration als auch eine Gegenleistung an die Kindergeneration erfüllen.
Also müssten alle Kinder haben? Was ist, wenn jemand das aber nicht möchte oder kann?
Das ist absolut legitim. Diese Personen haben die Möglichkeit, über die zweite und dritte Säule mehr zu sparen, weil sie mehr arbeiten können und weniger Kosten tragen müssen für die nachkommende Generation.
Das heisst, man müsste eigentlich sagen: Je grösser die Anzahl Nachkommen, desto grösser darf auch ein Umlageverfahren sein. Und je kleiner die Anzahl Nachkommen, desto mehr muss ein Umlageverfahren reduziert und das System mehr in einem Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut werden. Dies wäre ein wirklich nachhaltiges System. Natürlich ist auch ein Kapitaldeckungssystem abhängig von jüngeren Generationen, denn die Wertschöpfung, die in der Rentnerzukunft mit dem Kapital erworben wird, kommt nicht von der eigenen Generation. Ob das die Dienstleistungen eines Arztes ist, ein elektronisches Gerät aus Asien oder Gemüse von einem Bauernhof. Jedoch können durch Anlagen an den Finanzmärkten Eigentumsrechte an der zukünftigen, weltweiten Produktion und Wertschöpfung gesichert werden.
Veronica Weisser, 1979 geboren, studierte Ökonomie, Mathematik und Internationales Management in Deutschland, Frankreich und Spanien und stiess 2006 zum Research von UBS, wo sie zunächst in New York und anschliessend in Zürich verschiedene Analysetätigkeiten ausübte. Sie leitete in den vergangenen Jahren im Chief Investment Office der UBS die Schweizer makroökonomische und Sektorenanalyse sowie den Vorsorgesektor «Retirement & Pension Solutions» und verantwortete dabei die Strategie der UBS Schweiz zur Vorsorge sowie die UBS-Vorsorgeprodukte. Heute unterstützt Veronica Weisser die Weiterentwicklung der strategischen Themenbereiche Altersvorsorge, Hypotheken und Nachhaltigkeit für die UBS Schweiz. Sie hält im In- und Ausland regelmässig Vorträge zur Weltwirtschaft, zu Anlagestrategien und den Finanzmärkten sowie zur Schweizer Makroökonomie und zum Vorsorgesystem.
Ganz ohne Umlageverfahren geht es aber nicht?
Richtig, das wäre nicht förderlich. Die Tatsache, dass unser Vorsorgesystem alle drei Elemente abdeckt, also Umlage, Kapitaldeckung im Zusammenhang mit dem Arbeitgeber und eigenverantwortliche Kapitaldeckung, erlaubt ein sehr robustes System. Denn diese Treiber stützen sich auf verschiedenen Faktoren: Wie produktiv ist die junge Generation, wie viel Rendite erhält man in den Finanzmärkten? Das führt zu einer Risikoverteilung.
Nur das Ausmass, wie viel auf einen gewissen Pfeiler gestützt wird, muss mit der Realität unserer Lebensführung zusammenhängen.
Sie haben nun eine Utopie gezeichnet, doch angenommen, es wird alles so weitergehen wie bisher: Kann das dann gut gehen oder wird es irgendwann zum Kollaps führen?
Es gibt keinen Kollaps, aber in der Schweiz leben eine grosse ältere Generation mit einer grossen Stimmmehrheit und eine kleinere jüngere Generation. Das bedeutet, dass die Chance, dass in der direkten Demokratie Reformen umgesetzt werden, die zum Nachteil der jungen Generation sind, sehr hoch ist. Das bedeutet, dass das, was junge Generationen für ihre Eltern leisten müssen, sehr wahrscheinlich sehr viel mehr ist, als diese ältere Generation für ihre Eltern leisten musste.
Konkret heisst das: Junge Leute werden also länger arbeiten müssen?
In der Tendenz ja. Viele junge Leute werden sehr wahrscheinlich länger arbeiten müssen und im Verlauf des Erwerbslebens mehr abgeben müssen. Es gab bisher viele Jahrgänge, die haben 4 oder 5 Prozent ihres Einkommens an die AHV abgeben müssen. Würde die AHV ohne Rentenaltererhöhungen vollständig saniert werden, dann lägen die Abgaben in Zukunft bei 12 bis 16 Prozent, je nachdem, wie die Mehrwertsteuer, die Zahlungen vom Bundeshaushalt und andere Faktoren berücksichtigt werden.
In diesem Zusammenhang lese ich auch häufig von dieser Finanztransaktionssteuer. Halten Sie es für realistisch, dass eine solche Steuer unser Rentensystem zukünftig sanieren könnte?
Ich glaube nicht, dass das im politischen Prozess durchkäme. Ein Grossteil des Wohlstands der Schweiz liegt in den Händen der älteren Generation. Entsprechend legen vor allem Rentnerinnen und Rentner ihre Vermögen an. Zudem vererben die älteren Rentnerinnen und Rentner ihr Vermögen oft an die Baldrentner. Dadurch bleibt das Vermögen innerhalb der älteren Generation. Solange das so ist, wird diese Generation ihre eigenen Interessen nicht gefährden wollen.
Ich glaube, viel eher wird die Mehrwertsteuer angehoben. Das kostet vor allen Dingen die Jungen sehr viel, weil die Mehrwertsteuer eine Steuer auf den Lebenskonsum ist. Wer den Grossteil des Lebenskonsums hinter sich hat, den kostet eine Erhöhung der Mehrwertsteuer nur ein paar hundert Franken. Ein Kind zahlt die hohe Mehrwertsteuer ein ganzes Leben mit jedem Taschengeld und jedem Lohn und ist dann je nach Erhöhung mehrere hunderttausend Franken schlechter gestellt.
Junge Leute sind also gut beraten, früh in ein 3a-Konto zu investieren, was Banken ja neuerdings auch bewerben. Aber kommt so was an?
Vorsorge als Produkt verkauft sich nicht von allein. Es ist nicht mit einem Urlaub vergleichbar, den man sich selbst bucht. Vielen fehlt die Motivation, sich frühzeitig mit ihrer Vorsorge zu beschäftigen. Vorsorge erfordert wiederholte Information und viel Unterstützung in der Beratung.
Junge Leute haben ja häufig auch noch eine eher volatile Lebenssituation. Welchen Tipp geben Sie jungen Leuten bezogen auf ihre 3a-Säule?
Lieber mit Disziplin früh starten und geringere Beträge investieren als gar nicht starten.
Dieser Artikel wurde erstmals am 4.9.2024 publiziert.
1 Kommentar
Genauso sehe ich das auch. Es kann nicht sein, dass jemand, der mehrere Kinder großgezogen hat und das ganze Leben berufstätig war, dann auch noch im Alter dafür bestraft wird, dass viele aus seiner Generation ein entspanntes Leben ohne Nachwuchs genießen wollten. Auch, wer keine Kinder bekommen kann, hat mehr vom Lohn übrig, das er /sie für die Rente zurücklegen kann. Wir spüren das gerade sehr deutlich, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind.