Shaan Raithatha, die Märkte werden zunehmend nervös: Alle fragen sich, was die neue US-Regierung tun wird. Erwarten Sie, dass wegen der Unsicherheit die Volatilität weiter anzieht?
Es kann in der Tat für eine gewisse Zeit zu etwas mehr Volatilität kommen. Doch viel wichtiger scheinen mir die allgemeinen, fundamentalen wirtschaftlichen Faktoren zu sein, wie etwa der Arbeitsmarkt oder das positive Zinsumfeld. Vanguard investiert sehr langfristig, was natürlich kurzfristigen Schwankungen weniger Wichtigkeit verleiht.
Wir bei Vanguard rechnen mit guten Chancen bei Fixed Income. Wir haben positive Realzinsen. Sie bilden eine gute Basis für Renditen aus Bargeld und Anleihen in den nächsten zehn Jahren.
Welche Branchen sehen Sie als langfristig prosperierend an?
Wenn künstliche Intelligenz schon bald eine breite Anwendung finden wird, sind die Auswirkungen in sehr vielen Branchen positiv spürbar, weil sie die Effizienz massiv steigert. Das führt zu Wachstum.
Können Sie Beispiele nennen?
KI wird ausserhalb des Technologiesektors Branchen wie das Gesundheitswesen, den Finanzsektor oder die Fertigungsindustrie beeinflussen. Das führt zu mehr Wachstum und Effizienz in der gesamten Wirtschaft. Es ist wie bei der Elektrizität damals, die auch weitreichende Auswirkungen über den Energiesektor hinaus hatte. Investorinnen und Investoren, die auf diese KI-Entwicklungen setzen, sollten demnach ihren Aktienanteil diversifizieren, statt nur auf den Technologiesektor zu setzen.
Shaan Raithatha ist Senior Economist und Strategist bei Vanguard.
Rechnen Sie mit höheren Zöllen für Importe in die USA?
Wir werden sehen, was genau umgesetzt wird. Momentan ist noch nichts entschieden.
Kommt es Ihrer Meinung nach im Fall von höheren US-Importzöllen zu einem Handelskrieg?
Ob es so weit kommt, weiss niemand. Doch höhere Zölle könnten durchaus einen Effekt auf die Inflation haben. Die Preise könnten steigen.
Ein Blick nach China: Sind die strukturellen Probleme dort schon gelöst?
Nein. Wir sehen weiterhin strukturelle Herausforderungen, wie den anhaltenden Abschwung auf dem Immobilienmarkt und Überkapazitäten. Trotzdem erwarten wir, dass die angekündigten geld- und fiskalpolitischen Massnahmen das Wachstum im Jahr 2025 kurzfristig ankurbeln werden.
Europa humpelt wirtschaftlich gesehen den USA hinterher. Das Wachstum stagniert. Bringen weitere Zinssenkungen in der EU etwas Dynamik zurück?
Ja. Die wirtschaftliche Entwicklung in den USA hat nicht zuletzt wegen des grossen Binnenmarktes und dessen Möglichkeiten für Unternehmen ein günstigeres Umfeld geboten. Dieses fehlt in Europa. In der EU ist es sehr viel schwieriger, ein Start-up zum Fliegen zu bringen. US-Unternehmen haben hier ein günstigeres Umfeld und sind in diesem Bereich darum meist erfolgreicher.
Es gibt noch einen wichtigen Punkt: Wir haben ein unterschiedliches Zinsniveau zwischen den USA und der Europäischen Union. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird die Zinsen in diesem Jahr wohl weiter senken, was in diesem Wirtschaftsraum zu einem Momentum hin zu mehr Wachstum führen sollte.
In der Schweiz ist der Realzins schon negativ. Bereits rechnen Finanzhäuser mit einer neuen Negativzinsphase. Welche Entwicklungen erwarten Sie bei einem solchen Szenario?
Nun ja, wir bei Vanguard rechnen nicht mit einer langen Negativzinsphase. Selbst wenn diese kommen sollte: Wir haben ja in der vergangenen Tiefzinsphase respektive Negativzinsphase zwischen 2014 und 2022 gelernt, wie wir damit umgehen sollten.