Viereinhalb Jahre nach der Wirecard-Pleite wird Bayerns Oberstes Landesgericht an diesem Freitag stellvertretend für eine Lawine von Schadenersatzforderungen die Musterklage eines hessischen Aktionärs verhandeln. Doch dabei wird es weniger um Wirecard gehen als um die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die mutmasslich falschen Bilanzen des 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzerns über Jahre bestätigt hatte. Musterkläger-Anwalt Peter Mattil geht davon aus, dass ein vergleichsweise schnelles Urteil innerhalb der nächsten Jahre möglich ist. Das sagte der Münchner Jurist der Deutschen Presse-Agentur.

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Urteil in drei Jahren?

«Die Feststellungsziele, die wir bei Gericht eingereicht haben, umfassen mit Begründung 800 Seiten», sagte Mattil. «Darunter sind sehr viele Pflichtverletzungen von Ernst & Young, die wir einzeln dargelegt und beschrieben haben. Das muss natürlich abgearbeitet werden. Wenn das Gericht zügig arbeitet und ein Gutachten in Auftrag gibt, um diese Feststellungsziele abzuhandeln, könnte das in der ersten Instanz in drei Jahren erledigt sein.»

EY weist die Vorwürfe zurück: "Wir bewerten die Schadensersatzklagen gegen EY Deutschland als unbegründet", erklärte ein Sprecher. "Daher ist unsere Position weiterhin, dass Ansprüche gegen EY Deutschland auf Schadenersatz nicht bestehen."

Rechtsfragen für Feinschmecker

Das Gericht will zunächst prüfen, ob im Rahmen des Kapitalanleger-Musterverfahrens überhaupt gegen EY verhandelt werden kann. In der Formulierung des Gerichts: Es wird insbesondere darum gehen, ob die «Feststellungsziele» gegen EY «statthaft» seien.

Auf Entschädigung hoffen können geschädigte Anleger dann, wenn sie durch falsche Informationen zum Kauf der jeweiligen Aktie verleitet wurden. Im Fall Wirecard waren es die mutmasslich frei erfundenen Gewinne in den Bilanzen des Konzerns - bestätigt durch die Abschlussprüfer von EY. Eine Rechtsfrage ist, ob Bestätigungsvermerke und Unterschriften der EY-Prüfer unter den Wirecard-Bilanzen Kapitalmarktinformationen waren oder nicht. Eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Klagen ist darüber hinaus der Nachweis, dass Anleger vorsätzlich in die Irre geführt wurden.

Bei Ex-Vorstandschef Braun ist nicht viel zu holen - EY das eigentliche Ziel

EY steht in einer Reihe von 11 «Musterbeklagten» zwar nur an zweiter Stelle hinter Ex-Vorstandschef Markus Braun. Doch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ist die eigentliche Zielscheibe. Denn bei Braun ist nicht mehr viel zu holen. Der österreichische Manager war einst Milliardär. Doch mit der Wirecard-Pleite verlor auch Braun sein zum grössten Teil aus Wirecard-Aktien bestehendes Vermögen. Die übrigen Musterbeklagten können ebenfalls keine dreistelligen Millionensummen zahlen: Es handelt sich um Brauns zwei Mitangeklagte im Strafverfahren, einen früheren Wirecard-Finanzvorstand, vier ehedem mit Wirecard befasste EY-Prüfer persönlich sowie die zwei Insolvenzverwalter der Wirecard AG und der Vermögensverwaltung Brauns.

Wirecard-Aktionäre erlitten horrende Kursverluste

Das zivilrechtliche Musterverfahren läuft getrennt vom Strafprozess, in dem sich Braun und Mitangeklagte seit Dezember 2022 verantworten müssen. Die Musterklage wird quasi stellvertretend für 8.500 Schadenersatzklagen mit Forderungen von 750 Millionen Euro verhandelt. Diese 8.500 Verfahren sind nun bis zum Endes des Musterprozesses ausgesetzt. Wirecard-Aktien waren 2018 auf fast 200 Euro pro Stück gestiegen, nach der Pleite 2020 waren es nur noch Cent-Beträge.

Zehntausende Forderungen, Millionen Seiten an Papier

Sinn und Zweck des Musterverfahrens ist es, die juristische Aufarbeitung des Skandals zumindest ein wenig zu vereinfachen und zu beschleunigen: Die Münchner Zivilgerichtsbarkeit ächzt unter der Wirecard-Last: Abgesehen von den eigentlichen Klagen haben 19.000 Aktionäre Schadenersatzforderungen angemeldet, wie der Sprecher des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) mitteilt. Und im Insolvenzverfahren summieren sich die Forderungen mittlerweile auf über 15 Milliarden Euro. Darunter sind laut BayObLG 50.000 Aktionäre, die für ihre Kursverluste 8,5 Milliarden Euro verlangen. Ganz praktisch bedeutet dies, dass bei den Gerichten mehrere zehntausend Schriftsätze eingegangen sind. Da diese oft mehrere hundert Seiten umfassen, handelt es sich in Summe wahrscheinlich um mehrere Millionen Seiten an Papier. Gezählt hat diese allerdings niemand. (reuters/hzb/ps)

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