Finde deine Nische» oder «Erfolgreich durch Spezialisierung» waren Leitsätze, die in den letzten Jahren Buchcover, Coachings und Business- Mindsets dominierten. Alles übertrieben und Geldmacherei – zumindest, wenn es nach dem neuen Buch «Es lebe der Generalist!» von US-Investigativjournalist und Bestsellerautor David J. Epstein geht.
Anhand von Spitzensportlerlebensläufen, Fallbeispielen, Anekdoten und zahlreichen Forscherstatements beantwortet er die Frage, «Warum gerade sie (die Generalisten, Anm. d. Red.) in einer spezialisierten Welt erfolgreicher sind».
Im Mai 2019 unter dem englischen Originaltitel «Range: Why Generalists Triumph in a Specialized World» erschienen, schaffte es das Werk schnell auf Platz eins der «New York Times»-Bestseller-Liste. Seit Mitte März ist die übersetzte Fassung nun bei den Schweizer Buchhandlungen erhältlich.
Federer und Woods im Vergleich
Gleich auf den ersten Seiten beschreibt der Autor die Geschichte von Vorzeigespezialist und Golfprofi Tiger Woods, der schon im Laufgitter einen Golfschläger hinter sich her zog und bereits mit zwei Jahren sein erstes Turnier der Golf-Liga der unter Zehnjährigen gewann. Wunderkind Woods sei ebenso wie der fleissige Mozart am Klavier oder Mark Zuckerberg an der Tastatur zur «Verkörperung des Dogmas» geworden, also zu einer Art Beweis dafür, dass frühe Spezialisierung einmalige Leistung hervorbringt.
Dem gegenüber zeigt ein Schweizer, nämlich kein anderer als Tennisstar Roger Federer, wie viel Erfolg man aber auch als Generalist haben kann, denn: «Er probierte sich im Skifahren, Wrestling, Schwimmen und Skateboarden. Ausserdem spielte er Basketball, Handball, Tennis, Tischtennis, Badminton über den nachbarlichen Zaun und Fussball in der Schule», schreibt der Autor. «Später sagte er, die vielen verschiedenen Sportarten (…) hätten ihm bei seiner sportlichen Entwicklung und der Auge-Hand-Koordination geholfen.»
Zwar hält der Autor selbst wenig von diesen Sporterfolg-Lernerfolg-Analogien, dennoch wirft auch er einen tiefen Blick in Sportler-, Künstler-, Wissenschafter- und Entwicklerlebensläufe, um Spezialisierungsdogmen und -leitlinien wie etwa die 10 000-Stunden-Regel (so viel Übung soll den Meister machen), kritisch zu hinterfragen.
Das Ergebnis: Eine zielgerichtete Karriere scheine zwar von Anfang an systematisch, zielstrebig und hocheffizient. Diese «Überbetonung der Fokussierung» habe aber vor allem finanzielle Interessen Einzelner als Ursprung: «Die angebliche Notwendigkeit einer frühen Hyperspezialisierung bildet den Kern einer gewaltigen, erfolgreichen und gelegentlich gut gemeinten Marketingmaschinerie – im Sport, aber auch in anderen Bereichen.»
Irgendwann spezialisiert sich jeder
Die Wahrheit zeige: Die meisten richtig erfolgreichen Spitzensportler, Profimusiker, Künstler, Wissenschafter und Technologen hätten in jungen Jahren eher breit gefächert ausprobiert und sich erst spät spezialisiert.
Wir alle spezialisierten uns irgendwann, das geschehe beinahe von selbst. Und Spezialisierung habe in vielen Lebensbereichen auch etwas Gutes. Aber psychologische Erkenntnisse würden zeigen: Je technisch spezialisierter Menschen sind, desto schlechter können sie flexibel auf auch noch so kleine Änderungen reagieren. Hingegen könne in einer Welt «ohne verlässliche Regeln (…) ein breiter Erfahrungs- und Wissenshorizont der Rettungsanker sein».
Um nochmals im Woods- Federer-Vergleich zu sprechen: Tiger Woods’ Sportart Golf folgt relativ starren Regeln und Abläufen. Epstein nennt das eine «lernfreundliche» Umgebung, in der Spezialisten sowohl gedeihen als auch Erfolg haben.
Roger Federers Sportart Tennis sei hingegen dynamisch und erfordere schnelle Reaktionen auf Unerwartetes, was Epstein als «lernunfreundlich» beschreibt und als geradezu geschaffen für Generalisten, die eben die Stärke hätten, flexibel zu reagieren.
Ein Stoppschild für die erfolgshungrigen Helikoptereltern
Übersetzt in den Alltag sind etwa klassische Musiker, Onkologen oder Wissenschafter gut darin, sich zu spezialisieren, und der Job selbst bringt diese Spezialisierung auch irgendwann mit sich. Jazzmusiker, Improvisationskünstlerinnen, Erfinder oder Notfallmedizinerinnen hingegen würde eine Spezialisierung nur in ihrer schnellen Reaktionsgabe und in der Findung neuer Ansätze hindern.
Der Gesellschaft, den Businesscoaches, erfolgshungrigen Helikoptereltern und Fachidioten knallt David J. Epstein mit diesem Buch ein Stoppschild vor den Latz, und zwar mit hocherhobenem Zeigefinger. Die Sätze sind lang, die Anekdoten ausschweifend, zahlreich und kontrovers.
Gelegentliche, optisch herausgestellte Zusammenfassungen und Schlussfolgerungen hätten dem Lesevergnügen gut getan – denn: Mit 400 Seiten langem, nicht immer nötigem Detailreichtum ist dieses Buch keine Gute-Nacht-Lektüre. Epsteins Worte regen zum Nachdenken an und machen jenen Menschen Mut, die unter der Last des Spezialisierungswahns zu Selbstzweifeln, Angst vor Mittelmässigkeit und Orientierungslosigkeit neigen.
Epsteins Fazit: «Die Herausforderung, mit der wir alle konfrontiert sind, besteht darin, die Vorteile einer breiten Grundlage, vielfältiger praktischer Erfahrung, des interdisziplinären Denkens und einer späten Fokussierung in einer Welt zu wahren, die zunehmend zu Hyperspezialisierung aufruft und diese sogar einfordert.»
Wenn wir erkennen, dass eine bereits gewählte Spezialisierung doch nicht zu uns passt, sollten wir mutig weiterziehen. Vor allem Generalisten seien schliesslich «Menschen mit einem breiten Horizont», so Epstein, und damit diejenigen, die zwischen all den Experten das Potenzial hätten, über den Tellerrand zu blicken. Also rät der Autor allen Generalisten zum Schluss wohlwollend: «Haben Sie niemals das Gefühl, sie würden anderen hinterherhinken.»
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David J. Epstein: «Es lebe der Generalist! Warum gerade sie in einer spezialisierten Welt erfolgreicher sind». Redline Verlag. 36.90 Franken, 400 Seiten. Übersetzung: Almuth Braun.