Vor einem Jahr gönnte sich Pierin Vincenz ein spezielles Weihnachtsgeschenk: Er bot der Finma seinen Rücktritt als Helvetia-Präsident an, wenn die Aufseher im Gegenzug das Enforcement-Verfahren gegen ihn einstellten. So kam es dann auch: Drei Tage vor dem Fest vermeldete die Berner Behörde das Ende der Kampfhandlungen. «Ich nehme sicher keinen Job in der Finanzindustrie mehr an», warf Vincenz den Aufsehern nach und verschwand in den südafrikanischen Sommer. 

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Diesen Winter zog es ihn wieder ans Kap, aber es ist eine Flucht. Hinter ihm liegt ein Horrorjahr: Dreizehn Wochen Untersuchungshaft, gefolgt vom sozialen Bannstrahl, der den Paradebanker a. D. mit voller Wucht getroffen hat. Seine Mobilnummer hat er gewechselt, selbst langjährige Weggefährten haben keinen Kontakt mehr zu ihm. Und auch wenn die Anklageschrift noch in Arbeit und ein Schuldspruch alles andere als sicher ist: Gesellschaftlich ist er erledigt. Da ist die kleinräumige Schweiz brutal wie kaum ein anderes Land. Vergebung steht nicht auf dem Menüplan.

Damit zählt Vincenz zur schillernden Riege von Wirtschaftskapitänen, die nach steilem Aufstieg brutal abgestürzt sind: Die Swissair-Piloten Philippe Bruggisser und Mario Corti, «Zürich»-Megalomane Rolf Hüppi, der einstige Credit-Suisse-Shooting-Star Lukas Mühlemann. Doch von ihnen blieb nicht viel. Vincenz ist da anders: Er ist einer der gefallenen Manager, die vor allem zu Beginn ihrer Amtszeit Enormes geleistet haben.

Ohne ihn wäre die einstige Bauernbank kaum zur drittgrössten Bankengruppe des Landes aufgestiegen. In gewisser Weise wurde er Opfer seines eigenen Erfolgs: Dass die Regulatoren die Raiffeisen zur systemrelevanten Bank erklärten, ist vor allem seiner Aufbauarbeit geschuldet – und provozierte ein genaues Hinsehen der Aufseher, das seine Machenschaften erst auffliegen liess. 

Erstaunliche Parallelen

Und so unterschiedlich die Fälle auch sein mögen: Das Schicksal des abgestürzten Star-CEO, dem seine Nachfolger bei aller berechtigten Kritik dennoch extrem viel zu verdanken haben, teilt er mit zwei anderen langjährigen Konzernlenkern: Daniel Vasella und Marcel Ospel. Vom Charakter hat der joviale Banker des Volkes, der gern Showstar geworden wäre, zwar wenig gemein mit dem vielschichtigen und oft janusköpfigen Novartis-Vormann Vasella oder dem gewieften UBS-Banktaktiker Ospel. Doch die Art ihres Aufstiegs und die Ingredienzen ihres Falls bieten erstaunliche Parallelen – und besten Anschauungsunterricht für ein Vierteljahrhundert Schweizer Wirtschaftsgeschichte. 

Marcel Ospel

UBS-Architekt Marcel Ospel nach der Verkündung der Grossbankenfusion 1997.

Quelle: Bilanz

Drei Erfolgsfaktoren

Dabei hatte es Vincenz beim Sprung an die Spitze am einfachsten. Sein Vater Gion Clau Vincenz war acht Jahre VR-Präsident von Raiffeisen Schweiz gewesen, und so war es vorgespurt, dass der junge Pierin nach stürmischen Jugendjahren und eher spätem, aber schliesslich mit Promotionsweihen abgeschlossenem HSG-Studium in die Bankenwelt eintrat: Erst beim Basler Bankverein, dann nach einem Abstecher bei der Industriefirma Hunter Douglas ab 1996 bei Raiffeisen, zunächst als Finanzchef, drei Jahre später als CEO.

Auch Vasella konnte zwar auf familiäre Bande bauen – Marc Moret, Sandoz-Patriarch und Baumeister der Novartis-Fusion, war der Onkel seiner Frau. Doch der junge Mediziner – er hatte es am Berner Inselspital zum Oberarzt gebracht – musste sich erst als Vertreter in den USA beweisen, bevor Moret ihn dann 1996 als Chef der aus Sandoz und Ciba-Geigy fusionierten Novartis präsentierte. 

Am härtesten war der Aufstieg für Ospel. Er stammte aus dem Arbeiterviertel Kleinbasel und war als kleiner Bub immer voller Ehrfurcht am ehrwürdigen Hauptsitz des Bankvereins in der Aeschenvorstadt vorbeigelaufen. 1996 bezog er das Chefbüro. Beziehungen? Fehlanzeige. 

Alle drei verdanken ihren frühen Erfolg einem Charakterzug, der so viele erfolgreiche Konzernbaumeister auszeichnet: Dem Kampf gegen das Establishment. Dass Ospel in der Basler Fasnachts-Clique «Revoluzzer» mitmachte, war schon fast Programm. Seinen Range Rover liess er extra rot umspritzen, und auch sein Büro richtete er in flammendem Rot ein. Vor allem drängte er mit seinen radikalen Umbauplänen und klarem Leistungsdenken die Veteranen-Garde der Bank zur Seite – es war für den lange als «Pannenverein» verspotteten Bankverein eine Revolution von innen. Und von all den Überkreuz-Beteiligungen, die den Wirtschaftsfilz vor der Finanzkrise ausmachten, hielt sich Ospel bewusst fern: Er installierte die Regel, dass kein CEO oder VR-Präsident Mandate bei einem anderen Grosskonzern annehmen dürfe – sie gilt bei der UBS bis heute.

Daniel Vasella

Novartis-Baumeister Daniel Vasella vor seinem Angriff auf Roche.

Quelle: Bilanz

Auch Vasella stellte sich schnell gegen die ungeschriebenen Gesetze des Basler Daigs. Mit seinem Umzug ins steuergünstige Risch am Zugersee signalisierte er physische Distanz, und dass er den Erzrivalen Roche in eine Fusion zwingen wollte, war eine Kriegserklärung an das Establishment am Rheinknie. Aus dem CS-Verwaltungsrat, dem Königsgremium des Zürcher Freisinns, trat er nach nur drei Jahren wieder aus – ein klares Zeichen, dass er mit dem klassischen Wirtschaftsnetzwerk wenig zu tun haben wollte. 

Und Vincenz gönnte sich auf dem Höhepunkt seiner Macht ein besonderes Zeichen der Revolte: Als Vorstandsmitglied der Bankiervereinigung stimmte er dem Erhalt des Bankgeheimnisses intern zu, schoss aber nur kurze Zeit später öffentlich dagegen. So brachte er die gesamte Bankerkaste gegen sich auf. Auch er hielt sich als Raiffeisen-Chef aus Verwaltungsräten fern. Doch für alle drei hatte die Revoluzzer-Haltung einen schweren Nachteil: Beim Absturz waren sie allein.

Ein weiteres Erfolgsrezept

Dazu befolgten alle drei ein weiteres Erfolgsrezept: Sie scharten starke Truppen um sich und konsolidierten so ihre Macht. Am auffälligsten war das bei Ospel. Es war die Zeit, als das amerikanisch geprägte Shareholder-Value-Denken die Schweizer Weltkonzerne mit voller Kraft erfasste, und Ospel holte sich mit der Übernahme des US-Derivatehauses O’Connor eine Leibgarde ins Haus, die mit der Zeit alle Schaltstellen der Bank besetzte. 

Auch Vasella setzte auf die Amerikanisierung, allerdings fand er seine Leibgarde eine Stufe höher: Nachdem er nach gerade drei Jahren als CEO auch das Präsidium übernommen hatte, war seine Bezugsgruppe nicht mehr die Konzernleitung – hier nahm er so unsentimental Wechsel vor, dass sich eine Kultur des «Management by fear» bildete, die lange nach seinem Abgang den Konzern noch bremste. Zur Sicherung seiner Macht setzte er vielmehr auf den von ihm selbst präsidierten Verwaltungsrat, in dem es allerdings wenig Pharma-Expertise gab – Vasella herrschte nach Belieben. Es waren die Wildwest-Zeiten der Corporate Governance: Reglemente, Ausschüsse, Vergütungspraktiken – alles konnte er in diesen Gründertagen um die Jahrtausendwende selbst bestimmen. 

Auch Vincenz nutzte das Machtvakuum, das sich ihm bot: Der Verwaltungsrat war ein schwaches Abnickergremium, und als Brückenköpfe in der Zentrale installierte er zwei ehemalige Mitstreiter vom Bankverein: Patrik Gisel und Michael Auer. 

Pierin Vincenz

Raiffeisen-Lenker Pierin Vincenz auf dem Höhepunkt seiner Macht 2013: Erfolg durch den Kampf gegen das Establishment.

Quelle: Bilanz

Und dann kam ein drittes Erfolgsrezept hinzu: Ausgeprägtes Mikromanagement. Besonders intensiv agierte hier Vasella – seine E-Mails tief in die Organisation hinein waren legendär. Der unerfahrene Konzernchef zeigte eine fast schon fanatische Besessenheit, das Fusionskonstrukt zum Erfolg zu führen. Mehr als zehntausend Arbeitsplätze gingen verloren, doch mit einer gelungenen Mischung aus klarer Kommunikation, geschicktem Branding und raschen Entscheiden wuchs Novartis erstaunlich schnell zusammen. Wichtigster Baustein: Vasella etablierte die Firma in den USA als Global Player – und inszenierte sich dort als erster europäischer Managerstar. Er posierte als Motorrad-Held in Lederjacke auf dem Titelblatt von «Business Week» oder platzierte bei «Fortune» die legendäre Titelstory «Confessions of a CEO». 

Und so gelang es ihm, die Pharmafirma aus der fernen Kleinstadt Basel auch in den USA attraktiv zu machen. Sein bevorzugtes Rekrutierungs-Terrain: McKinsey. Vasella lancierte ein Programm, das die Top-Nachwuchskräfte der Unternehmensberatung mit naturwissenschaftlicher Ausbildung zu Novartis locken sollte. Die besten Kandidaten sassen im Büro in New Jersey, und mehrere Nachwuchsleute waren bereits zu Novartis gewechselt, als auch ein gewisser Vas Narasimhan ein Angebot erhielt – selbst in Harvard ausgebildeter Mediziner. «Was ich über Daniel Vasella gelesen habe, hat mich sehr beeindruckt: Ein Arzt, der eine Pharmafirma leitet», sagte der heutige Novartis-Chef jüngst gegenüber BILANZ. Vasella verquickte wie kaum jemand Charme und eiserne Härte, und er überzeugte auch Narasimhan. Heute stammt etwa die Hälfte des Novartis-Gewinns aus den USA – das ist Vasellas grösste Leistung. In seiner Amtszeit stieg der Umsatz von 31 auf 51 Milliarden Franken. 

Gipfelstürme

Diese Amerikanisierung war auch der Hebel, über den Ospel den Bankverein an die Spitze führte. Mit seinen O’Connor-Leuten baute er den Konzern, der heute noch praktisch identisch besteht: Der Asset Manager Brinson ist der Grundpfeiler des heutigen Asset Managements, die britische Investmentbank Warburg mit ihrem starken Aktiengeschäft die Basis des Investment Bankings. Und die Übernahme der SBG, der unangefochtenen Nummer eins der Schweizer Bankenwelt, bildete das Fundament für die heutige Spitzenstellung im globalen Vermögensverwaltungsgeschäft, noch ausgebaut durch die Übernahme von Paine Webber – so ist die UBS heute in den USA die einzige ausländische Bank mit starker Vermögensverwaltung. In Ospels Amtszeit stiegen die Kundengelder von 1,7 auf 3,2 Milliarden Franken.

Vincenz dagegen hatte nur die Schweiz als Bühne. 722 eigenständige Banken zählte der Verbund bei seiner Übernahme, heute sind es noch 246. Führung aus der Zentrale gab es kaum. Rastlos liess sich der neue Chef durchs Land chauffieren, führte die Filialen zusammen und schuf gemeinsame Services; IT, Finanzen, HR. Gleichzeitig brachte er die Bauernbank in die Städte. In seiner Amtszeit stieg der Gewinn von 335 auf 759 Millionen Franken.

Vasella war auf dem Höhepunkt, als ihn die «Financial Times» 2004 zur einflussreichsten europäischen Business-Person der letzten 25 Jahre kürte: Super Dan. Ospel war auf dem Höhepunkt, als er die grösste Bankenfusion Europas durchgezogen hatte: Mega Marcello. Und Vincenz war auf dem Höhepunkt, als er nach Ausbruch der Finanzkrise die Grossbanker in den Schatten stellte und den gesamten Finanzplatz mit seinen Voten vor sich hertrieb: Piz Pierin.

Steil bergab

Warum ging es dann bergab? Das Trio erlag der Verlockung, der so viele starke Konzernlenker nicht widerstehen können: Empire Building. Nachdem ihm die Fusion gelungen war, fehlte es Vasella an Fokus. Novartis war ja deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil sich die Firma auf Pharma konzentriert hatte. Vasella wollte erst mit Roche, dann mit Aventis fusionieren, doch beide Male lehnte die Gegenseite ab. Daraufhin schuf er das Unwort der «fokussierten Diversifikation» und kaufte den Augenkonzern Alcon oder den Generika-Hersteller Hexal dazu. Ospel wollte die damalige Wall-Street-Ikone Merrill Lynch übernehmen, doch der Deal scheiterte, und so gab er das Ziel aus, aus eigener Kraft die Nummer eins im Investment Banking zu werden. Und Vincenz begab sich auf grosse Shopping-Tour: Die Privatbank Notenstein, das Derivatehaus Leonteq, der Asset Manager TCMG. Erstmals murrte die Basis. 

Doch dann war es vor allem das Geld, das auch hier eine fatale Rolle spielte. Am ausgeprägtesten war es bei Vasella. «Je mehr ich verdiente, desto mehr beschäftigte mich das Geld», räumte er 2002 freimütig ein. «Geld korrumpiert.» Ihn offenbar auch. Niemals in der Schweizer Konzerngeschichte hat sich ein Manager ein derart geschicktes System der eigenen Geldzuschanzung aufgebaut. Er liess als Präsident einen Vergütungsausschuss einrichten, dem er gleich selbst beitrat, und erhöhte sein Salär mit einem Schlag von etwa 2 auf 20 Millionen Franken.

Nachdem die Schweizer Firmen erstmals 2002 ihre Top-Verdiener hatten offenlegen müssen, liess er Listen verteilen, nach denen er international nur im Mittelfeld liege. Doch mit der Zeit stieg er zum höchstbezahlten Pharmachef der Welt auf: In Spitzenzeiten schwoll sein Salär auf mehr als 40 Millionen an – sein Nachfolger Jörg Reinhardt bezieht noch 3,8 Millionen. Dass der Aktienkurs dennoch stagnierte, brachte Kritiker wie den Kleinunternehmer Thomas Minder auf den Plan. Für ihn war Vasella der Posterboy der sogenannten Abzocker. Als kurz vor der Minder-Abstimmung im März 2013 bekannt wurde, dass Vasella eine Abfindung von 72 Millionen Franken erhalten sollte, war sein Ruf endgültig zerstört. 

Vasella tauchte ab, erst nach Amerika, dann nach Uruguay, heute lebt er wieder vorwiegend in Risch. Sein Nachfolger Reinhardt entschlackte sein Gesundheitskonglomerat. Doch obwohl der Übervater auch ihn einst kühl abservierte, bestreitet auch er nicht: Ohne Vasella wäre Novartis nicht der Weltkonzern, der er heute ist. 

Ospels Haus

Bei Ospel war nicht direkt das Salär der Grund für seinen Fall. Doch dass er auch als Präsident noch bis zu 26 Millionen kassierte – sein Nachfolger Axel Weber bezieht heute sechs Millionen –, schadete ihm massiv, als die Finanzkrise kam. Schon das Swissair-Grounding hatte sein Image angekratzt, jetzt galt er noch immer als Herrscher der UBS, obwohl operativ längst CEO Peter Wuffli das Zepter übernommen hatte. Unermüdlich luden dessen Investment Banker die toxischen Subprime-Papiere auf ihre Bücher. Die Kritik am Bilanzwachstum aus dem Verwaltungsrat wischte Wuffli weg. Ospels Problem war nicht, dass er zu mächtig war, sondern dass er zu weit weg war und deshalb seine Macht nicht ausspielte. Am Ende blieb nur der Rücktritt. Doch intern geniesst er noch immer hohes Ansehen. Zur Einweihung des renovierten Hauptsitzes an der Bahnhofstrasse 45 im Januar ist er eingeladen. Die UBS ist noch immer das Haus, das Ospel gebaut hat.

Und Vincenz? Für ihn war Ospel eher eine Projektionsfläche fürs grosse Geld. So aussergewöhnlich auch seine Leistung war, so karg fand er seine Entlöhnung –zwischen zwei und drei Millionen pro Jahr reichten ihm offenbar nicht. Er ist der einzige der drei, der strafrechtlich verfolgt wird. Mit seinem draufgängerischen Kompagnon Beat Stocker ersann er verdeckte Beteiligungen, die ein nettes Nebeneinkommen sichern sollten. Der Sturm fegte auch seine Adlaten Gisel und Auer weg. 

Vasella fiel über exzessive Geldgier, Vincenz über persönliche Bereicherungsversuche. Und Ospel darüber, dass er die Bank am Schluss viel weniger lenkte, als alle dachten. Doch alle drei haben ihre Firmen mutig, visionär und mit harter Hand an die Spitze getrieben. Die meisten heutigen Konzernchefs wirken dagegen wie mutlose Portfolio-Optimierer.

Gescheitert: Von ihrer Expansion blieb nicht viel

Der ehemalige SAir Group Verwaltungsrat und CS Konzernchef Lukas Muehlemann

Lukas Mühlemann (CS)

Quelle: Keystone .
Rolf Hüppi, Chairman of the Board of Swiss financial company Zurich Financial Services, talks during the general meeting on Thursday, May 16, 2002 in Zurich, Switzerland. He will retreat after the meeting. (KEYSTONE/Gaetan Bally)

Rolf Hüppi (Zürich)

Quelle: Keystone .
Ex Swissair Konzernchef Philippe Bruggisser

Philippe Bruggisser (Swissair)

Quelle: Keystone .