Nach der Bundesratswahl ist vor der Bundesratswahl. Auch wenn die Posten nun wieder verteilt sind: Die nächsten Rücktritte von Regierungsmitgliedern werden folgen. Und die Virtuosen des «permanent campaigning» werden nicht ruhen, weiterhin die Volkswahl der Regierungsmitglieder zu fordern.
Dieses Mal geriet die Kandidatenkür zum Volksfest. Satiriker, Sportler und Missen wurden medial als Kandidaten gehandelt. Die nicht ganz ernst gemeinte Aktion zeigte nur: Wenn es um Personen geht, ist Politik in aller Munde. Wenn es um Probleme geht, schweigt die Mehrheit.
Das müsste nicht so sein: Die Schweizer verschlafen mit einer durchschnittlichen Stimm- und Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent die global einmalige Chance, die ihnen unser System gibt. Die wohl demokratischste Demokratie der Welt verharrt in politischer Apathie. Dabei ginge es in der Welt heute darum, sich für eine wettbewerbsfähige Volkswirtschaft einzusetzen. Es ginge um ihre Einordnung nicht nur ins alte, sondern auch ins aufstrebende neue Europa. Und es ginge um einen Beitrag der Reichen im Kampf gegen die Probleme der Armen.
Aber wir beschäftigen uns lieber mit der Parteizugehörigkeit des Schwingerkönigs. Was ist los in einem Land, das jedem über 18-jährigen Bürger das einmalige Recht gibt, über höchste innen- und aussenpolitische Staatsangelegenheiten zu befinden, in dem aber die unter 29-Jährigen nur unterdurchschnittlich von diesem Recht Gebrauch machen? Und in dem Teenager – international verglichen – sehr wenig über Politik wissen und angeben, auch später von diesem Recht keinen Gebrauch machen zu wollen. Die subjektive Distanz der Jugendlichen zum politischen System ist gross; politische Entscheidungen werden tendenziell als nicht beeinflussbar wahrgenommen.
Es mangelt wohl an Vorbildern. Und es mangelt an Bildung. Im Lehrplan zwar vorgesehen, gehen Fragen zu Politik und Wirtschaft zwischen Projektunterricht, der Förderung sozialer Kompetenzen und einer dominierenden Umweltbildung aber unter. Das Wissen darum, dass wir Kapital brauchen werden, um natürliche Ressourcen zu schützen, und dass wir Mitverantwortung brauchen, um eine gerechtere Welt zu schaffen, ist zwar wichtig. Doch wir brauchen auch Tellensöhne und Tellentöchter, welche die Grammatik unserer heutigen Welt verstehen, um sich in einer globalisierten Welt zurechtfinden zu können.
«Wie wäre es, politisch gebildet zu sein?», könnten wir uns – frei nach Peter Bieri – fragen. Und es würde uns wie Schuppen von den Augen fallen: Es wäre aufregender, anstrengender – und besser. Nachwuchsleute würden Parteien gründen. Kaderpersonen würden der Politik ihre Kompetenzen und Netzwerke zur Verfügung stellen. Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit wären Standard bei der Rekrutierung von Unternehmensleitungen. Und unsere Jugendlichen wüssten die sieben Bundesräte im Schlaf aufzuzählen. Die Schweiz würde sich auf den Weg machen, wieder eine wichtigere Rolle auf dem internationalen Parkett zu spielen. Und wir würden aus dem Kapital, das wir aus 200 Jahren Frieden geerbt haben, mehr machen als heute: eine nicht nur unabhängige und wettbewerbsfähige, sondern auch eine einflussreiche Demokratie in Europa.
«Wie wäre es, politisch gebildet zu sein?», müssten wir uns im Bildungswesen fragen. Und es wäre klar: Es braucht neue, zukunftsweisende Fächer und Mittel der politischen Bildung. Und es braucht ein Bekenntnis von Wirtschaft und Gesellschaft, dass Schule nicht nur auf das Leben vorbereitet, sondern schon ein Teil dieses Lebens ist.
Carolina Müller-Möhl, Politologin, ist Präsidentin der Müller-Möhl Group und Verwaltungsrätin von Nestlé S.A. sowie der Orascom Development Holding. Sie ist Stiftungsratsmitglied des Stiftungsforum, Co-Präsidentin des Forums Bildung und Mitglied der Young Global Leaders.