Seit dem Pisa-Schock ist es gefährlich ruhig um das Thema Bildung. Standesinteressen oder Desinteresse versperren den Blick auf das Wesentliche. Bildung braucht eine unabhängige Lobby!
Der Boulevard ist nicht dafür bekannt, sich häufig mit Bildung auseinanderzusetzen. Doch kürzlich war es so weit: Die deutsche «Bild»-Zeitung ernannte Bernhard Bueb zum strengsten Lehrer Deutschlands. Das Buch des ehemaligen Leiters der Internatsschule Schloss Salem mit dem Titel «Lob der Disziplin» hatte für Aufruhr gesorgt. «Bild» war zur Stelle und schürte die Emotionen. Und plötzlich war sie da: die Diskussion über die Bildung der Zukunft.
So weit sind wir in der Schweiz noch nicht. Wir wähnen uns in besserer Position. Trotz Pisa-Schock vertrauen wir auf alte Stärken. Doch Stillstand bedeutet Rückschritt. Die Ruhe ist gefährlich. Wenn wir keine Vision haben, was unser Bildungssystem in zehn, zwanzig Jahren leisten soll, dann wird es sich nicht weiter entwickeln – mindestens nicht so schnell, wie es der Wettbewerb von uns verlangt.
Zwar weisen politische Sonntagsreden darauf hin, wie wertvoll der «Rohstoff Bildung» sei. Hin und wieder dürfen wir abstimmen – über Religionsunterricht oder Fremdsprachen. Berufsverbände vertreten munter ihre Interessen. Das alles ist legitim. Aber es verstellt den Blick aufs Ganze.
Ohne Bildung werden wir nicht genügend innovativ und leistungsfähig sein. Wer aber den Ast, auf dem er sitzt, mit linearen Sparübungen absägt, ist schlecht beraten. Und wer meint, es genüge, das Ausgabenniveau in der Bildung wenigstens zu halten, macht sich Illusionen. Der weltweite Wettbewerb spricht eine andere Sprache.
In Zukunft wird sich jeder Erwerbstätige mehrmals neu orientieren müssen. Schnurgerade Laufbahnen gehören der Vergangenheit an. Bildung wird dafür ein Wegweiser sein – wir brauchen sie in der Breite genauso wie an der Spitze. Dabei muss sie gepaart sein mit Leistungswillen und Selbstverantwortung.
Aber unsere Bildung hat keine Lobby! Zu häufig erscheint sie nur im Zerrspiegel der Standespolitik, im Licht religiöser oder kurzfristig motivierter Interessen. Kennen Sie die Erziehungsdirektorenkonferenz? Wissen Sie, dass die Stiftung Avenir Suisse das Bildungsprogramm aus dem Portfolio kippen musste? Zu häufig delegieren Wirtschaftsvertreter das umfassende Engagement für Bildung an staatliche Organe. Durch ihr Abseitsstehen aber verlängern sie die gefährliche Ruhe in unserem Land.
Diese Ruhe ist fatal. Die OECD hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Bildung Wachstum schafft. Aber denken wir auch an andere Effekte: Bildung fördert Unbestechlichkeit und Sensibilität – was gibt es Besseres für das Leben in der multikulturellen Gesellschaft!
Bildung ist kein fossiler Brennstoff, der Abgas produziert und irgendwann erschöpft ist. Bildung ist eine erneuerbare Energie – sauber, sicher und leistungsfähig! Ein Land wie die Schweiz sollte begabte Jugendliche konsequent fördern. Hohe Abbruchquoten namentlich in der Berufsbildung kann es sich nicht leisten. Und es kann nicht zulassen, dass es im wichtigen Vorschulalter und der Grundstufe an Früherkennung und Frühförderung fehlt.
Die Skepsis gegenüber den Reformen im Kanton Aargau kann ich nicht verstehen. Da wird ein Gymnasium für Leistungsstarke abgelehnt, weil man angeblich Gleichheit will und Demokratie. War es nicht die Idee unserer Schulen seit je, allen die gleichen Chancen auf ein Fortkommen zu bieten – also auch den Leistungsstarken?
Die Schweizer Schulen und Hochschulen brauchen systematische Reformen. Dafür müssen wir uns einsetzen – dafür brauchen wir eine Lobby. Diese müsste die Bildungspolitik international vernetzen. Sie müsste die Politiker informieren und mehr Taten von ihnen fordern. Mehr Disziplin? Wenn schon, dann für alle! Buebs Aufruf müsste sich auch an Politiker richten: Sie sollten konsequenter die Energien fördern, die uns antreiben.
Carolina Müller-Möhl, Politologin, ist Präsidentin der Müller-Möhl Group, Verwaltungsrätin der Nestlé S.A. und der Kühne Holding AG. Die Mutter eines Sohnes gehört der Leitung der Stiftung Pestalozzianum für Jugend, Bildung, Dialog an.