Es ist eine gute Zeit, um über Prioritäten nachzudenken. Über das, was uns glücklich macht. Was wir verändern müssen. Der deutsche Unternehmer Adolf Merckle hat uns mit seinem Suizid Anfang Jahr auf tragische Weise vor Augen geführt, wie sehr Besitz und Reichtum unser Dasein zu bestimmen und zu definieren scheinen.

Es gibt einen literarischen Vorläufer. Kennen Sie die Novelle «Wie viel Erde braucht der Mensch?» von Leo Tolstoi? Ende des vorletzten Jahrhunderts beschrieb er die Gier der aufkommenden kapitalistischen Moderne. Bauer Pachom kauft ein Stück Land und wird Gutsbesitzer. Seine Gier nach Eigentum ist unersättlich. Er erhält die Gelegenheit, so viel Grund zu erwerben, wie er von Sonnenauf- bis -untergang zu Fuss abschreiten kann. Am Ende des Tages bricht er vor Erschöpfung tot zusammen.

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«Wie viel Erde braucht der Mensch?» ist keine Absage an den Materialismus. Bauer Pachom ist am Ende ein toter Mensch, und die Ansprüche eines lebendigen Menschen sind doch etwas höher als «sechs Ellen».

Und heute? Wir kommen nicht darum herum, Wachstum kritisch zu hinterfragen. Vor allem müssen wir uns überlegen, welche Wirtschaftsmodelle Alternativen böten. Ungebremstes Wachstum, das haben wir bitter erfahren, funktioniert nicht. Wer dies immer noch glaubt, handelt verantwortungslos.

Hätte Pachom zur rechten Zeit innegehalten, wäre er nicht gestorben. Das richtige Mass und das richtige Ziel sind gefragt. Wachstum: ja, aber wohlüberlegt. Die richtigen Akquisitionen, welche die Kräfte nicht übersteigen und Sinn ergeben. Expansion: ja, aber nicht um jeden Preis. Warten können, bis das richtige Objekt zum richtigen Preis entdeckt ist. Innehalten, überlegen, Kräfte sammeln. Auch Nein sagen. Das alles können wir von Tolstoi lernen.

Die Tragik Pachoms liegt in seinen einseitigen Wertvorstellungen. Nur Besitz hält Tolstois Bauer für erstrebenswert. Andere Ziele, geistiges Eigentum, Bildung, Solidarität oder Kommunikation mit anderen zur Lösung von Problemen, kennt er nicht und will sie auch nicht kennen lernen. Pachom ist durch und durch Egoist. Die Gier treibt ihn an. Ihm fehlen jedes Talent zur Bescheidenheit und jeder Sinn für das Soziale, für Grenzen.

Aktuelle Studien über Glück belegen: Eine funktionierende Beziehung, Familie, Freunde, eine befriedigende Tätigkeit, Kinder sind die Bausteine eines erfüllten Lebens. Bestimmt auch ein gewisser Wohlstand – nicht aber Überfluss. Denn auch das Materielle kennt einen abnehmenden Grenznutzen.

Und dennoch wachsen die Bedürfnisse rasant. Die Menschheit verbraucht ein Viertel der Biomasse der Erde. Das Global Footprint Network und die European Environment Agency haben errechnet, dass in Europa eine Person 4,7 Hektaren pro Jahr benötigt, dass aber lediglich 2,3 Hektaren pro Kopf zur Verfügung stehen.

Wie geht die Wirtschaft damit um? Wirtschaft und Politik müssen mit der Wissenschaft zusammenspannen, Antworten finden und Handlungsempfehlungen ausarbeiten. Wir brauchen neue Modelle, die der Endlichkeit der Erde Rechnung tragen. Wir brauchen mutige Vordenker sowie den Willen, Dinge anders zu gestalten.

Das 20.  Jahrhundert war das Jahrhundert des technischen Fortschritts. In den kommenden Jahren werden wir Brüche und Kollisionen erleben. Wir werden mit der Vergangenheit brechen müssen.

Lernen, ausprobieren, verändern ist angesagt. Nachhaltige Geschäftsideen mit stabilen Werten müssen in unserer Werteskala ganz nach oben rücken.

Catherine Mühlemann war Geschäftsführerin bei MTV Networks in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie sitzt u.a. im Swisscom-VR und lebt in Berlin.