Christine Lagarade lernt früh, sich gegen eine Überzahl von Männern durchzusetzen. 1956 in Paris geboren, wächst sie mit drei jüngeren Brüdern in Le Havre in der Normandie auf. Mit ihrem Vater, einem Universitätsprofessor, kann sie sich intellektuell nur viel zu kurz messen – er stirbt, als sie 17 ist.
Nach dem Abitur in Frankreich, wo sie es als Synchronschwimmer bis in die Nationalmannschaft schafft, macht Lagarde einen College-Abschluss in den USA. Dort sammelt sie auch erste politische Erfahrungen als Praktikantin im Büro des Republikaners von William Cohen, der später unter Bill Clinton Verteidigungsminister wird.
Wiederum in Frankreich studiert Lagarde Recht und Politik und beginnt im Alter von 25 ihre Anwaltskarriere im Pariser Büro der internationalen Kanzlei Baker & McKenzie’s. Sie arbeitet sich nach oben und wechselt schliesslich 1999 ins Hauptquartier nach Chicago, wo sie als erste Frau in der Firmengeschichte der Geschäftsführung vorsitzt.
Nicht so zögerlich wie Merkel
Als Lagarde 2005 nach Frankreich zurückkehrt und den Posten als beigeordnete Landwirtschaftsministerin annimmt, den Premierminister Dominique de Villepin ihr anbietet, spricht sie im Gegensatz zu vielen Kollegen perfekt Englisch. Nach einem Monatsintermezzo im Handelsministerium übernimmt sie im Frühjahr 2007 dann das Amt der Ministerin für Wirtschaft und Finanzen.
Als Quereinsteigerin muss sie sich ihre Anerkennung erst verdienen. Doch das gelingt Lagarde während der Weltfinanzkrise. Mit ihrer pragmatischen, zupackenden und zugleich freundlichen Art verschafft sie sich international Respekt. Die „Financial Times“ aus Grossbritannien – normalerweise kein Land, in dem man die französische Wirtschaftspolitik schätzt – kürte sie 2009 zur besten Finanzministerin Europas.
Auch in der Eurokrise tritt die Französin von Anfang an bestimmt für Finanzhilfe für schwächelnde Länder ein, nicht erst nach langem Zögern wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.
Ein Schatten namens Tapie
Heute ist Lagarde nicht nur die erste Frau an der Spitze eines Finanzministeriums der G8-Staaten, sie kann auch der erste weibliche Chef in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds werden. Ihre Chancen sind gut. Die europäischen Länder stehen hinter ihr, für die USA ist sie mit ihrer Vergangenheit eine gute Wahl und sogar China zeigt sich nicht abgeneigt.
Nur ein Schatten lastet auf Lagardes IWF-Kandidatur: In Frankreich sieht sie sich dem Vorwurf gegenüber, Beihilfe bei der Veruntreuung öffentlicher Geld geleistet zu haben. Denn nachdem der Geschäftsmann Bernard Tapie 1993 nach einem Anteilsverkauf gegen die Bank Credit Lyonnais geklagt hatte, stimmte Lagarde 2007 in dem Fall einem Schiedsurteil zu – und Tapie zog mit 285 Millionen Euro staatlicher Entschädigung davon. Am 10. Juni entscheiden nun die Behörden, ob ein Verfahren eingeleitet wird.
Übersteht die zweifach geschiedene Mutter zweier Söhne diese Episode unbeschadet, hat wohl niemand so gute Chancen auf den IWF-Chefposten wie sie. Dann stünde für Christine Lagarde womöglich bald ein Umzug von Paris nach Washington an.
"Aus einer Position der überlegenen Stärke“
Mitnehmen könnte sie die Bilder, die in ihrem jetzigen Büro hängen und über die ein Reporter der „Irish Times“ sie charakterisiert. „Den meisten Raum nehmen Zeitungscartoons ein mit der grossen, silberhaarigen Figur von Lagarde selbst, versehen mit den dazugehörigen bissigen Kommentaren“, schreibt er. „Die Wand zeigt, dass Lagarde über sich selbst lachen kann. Aber sie tut es aus einer Position der überlegenen Stärke.“
Die Männer beim IWF können sich schon mal darauf einstellen.