Kurt W. Zimmermann
Langjähriger Medienmanager und Inhaber der Consist Consulting AG in Zürich. E-Mail: kurt.zimmermann@consist.ch

Geschlagene drei Stunden lang nahm sich der Unternehmer für den Journalisten Zeit, erklärte ihm geduldig die Eckwerte von Halbjahresrechnung wie Bilanz und zeigte nicht ohne Stolz auf, dass der Gewinn 2002 zwar etwas tiefer als 2001, aber immer noch beträchtlich ausfallen werde.

Zwei Tage später las er mit Erstaunen, sein Unternehmen stehe kurz vor dem Konkurs. Seine Verwunderung wuchs, als er sah, wie dilettantisch der Journalist seine abenteuerliche These belegte: Er hatte den Cashflow des Unternehmens mit dem Ebit verwechselt, darauf die Abschreibungen subtrahiert und auch Buchwert und Börsenwert durcheinander gebracht.

Als der Unternehmer kürzlich die Geschichte erzählte, tat er dies in einer grösseren Runde von Managern und Wirtschaftswissenschaftlern. Er halte, sagte er, die meisten Wirtschaftsjournalisten für unqualifiziert, überfordert und unfähig, auch nur eine Unternehmensbilanz zu lesen.

Noch selten ist ihm für eine Meinungsäusserung derart viel Applaus zuteil geworden.

Wo man in Wirtschaftskreisen auch hinkommt, Journalisten-Bashing ist derzeit ein vorrangiges Gesprächsthema. Mit dem Imagesturz der Managerkaste ist auch der Ruf der Wirtschaftsjournalisten in ungeahnte Tiefen gesunken. Sie gelten als unkritische Claqueure, welche die Unternehmensblasen der Vergangenheit erst hochgepusht haben und nun, quasi als Rehabilitation, jede unternehmerische Leistung der Gegenwart inquisitorisch niederreissen müssen. Man hält die meisten Wirtschaftsjournalisten für unqualifiziert, überfordert und unfähig, auch nur eine Unternehmensbilanz zu lesen.
Jeder schreibt jedem ab, es wird zu Treibjagden geblasen: ein fataler Lemmingeffekt.
Das Vorurteil ist leider mit der Wahrheit deckungsgleich: Die meisten Schweizer Wirtschaftsjournalisten sind in der Tat unfähig, eine Unternehmensbilanz zu lesen. Ich wette, dass bei einem Test keine 40 Prozent der Gilde im Stande wären, eine normale Mittelflussrechnung zu interpretieren. Fragte man gar danach, wie man einen Firmenwert berechnet, sänke die Quote unter 20 Prozent.

Die Misere ist keine Schweizer Eigentümlichkeit. Marjorie Scardino, CEO des britischen Medienkonzerns Pearson, des Verlegers der «Financial Times», hat es Anfang Oktober mit Blick auf die Skandale um Enron und WorldCom ähnlich formuliert: «Wenn Journalisten Bilanzen lesen könnten, wäre einiges früher aufgedeckt worden.»

Enron und WorldCom sind Swissair und «Zürich». Der Mechanismus der vorgängigen Heiligsprechung und der anschliessenden Hexenverbrennung hat identisch gespielt. Der gemeinsame vorschnelle Irrtum wie die gemeinsame verspätete Verfluchung sind mit dem Mangel an betriebswirtschaftlicher Sachkenntnis zu erklären und seiner sozialpsychologischen Konsequenz.

Wer sich seiner Sache unsicher ist, weil ihm dazu die Sachbasis fehlt, der reagiert wie die Kinder im dunklen Wald, die sich zur gegenseitigen Absicherung die Hände reichen. Das Kollektiv vermittelt Sicherheit, auch im Journalismus: Wenn alle dasselbe sagen, fühlt sich der Einzelne psychisch aufgehoben, egal, ob er in der Sache richtig oder daneben liegt.

Dies führt zum fatalen Lemmingeffekt des populistischen Wirtschaftsjournalismus. Jeder schreibt jedem ab, es wird zu Treibjagden geblasen. Für Unternehmen kann das verheerend sein, wie sich bei den Grossbanken zeigte: Als Mathis Cabiallavetta die UBS verliess, wurde der Bank fast unisono der Gang zum Liquidationsrichter in Aussicht gestellt. Nun ist es die Credit Suisse, der die Lemminge den Exitus prophezeien – doch auch hier stützt die Sachlage die überdrehten Untergangsszenarien nicht.

Man kann den Verlagen und Zeitungen nicht einmal einen grossen Vorwurf machen. Universitätsabgänger mit Abschluss in Ökonomie werden nur selten Journalisten, und so ist die Branche mit Quereinsteigern überfüllt. Sehr gute Leute wiederum wandern ab, weil ihr Salär schnell an eine obere Grenze stösst – mehr als etwa 150 000 Franken liegen kaum drin.

Die Bereitschaft zur Selbstkritik ist in der Wirtschaftspresse dennoch eher schwach ausgebildet. Das ist nicht weiter verwunderlich. Unsere Kommunikationsgesellschaft, die den Effekt und nicht die Substanz als Erfolgskriterium gewählt hat, stärkt ihre Position ohne Unterlass. Journalisten wissen, dass viele Unternehmen die Medienwalze mehr fürchten als ihre Konkurrenten im Markt. Nur wenige unangreifbare Figuren wie Nicolas Hayek haben es gewagt, sich öffentlich mit ihnen anzulegen.

Auch Pearson-Chefin Marjorie Scardino hielt nicht lange durch. Nach ihrer Schelte an die Adresse der «Financial Times», reagierte die Redaktion wutentbrannt und unterzeichnete umgehend einen scharfen Protestbrief. Scardino entschuldigte sich und liess die «Financial Times» wissen: «You are the best oft the world.»

Womit die Welt wieder in Ordnung wäre.
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