Als Bundeskanzlerin Angela Merkel den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras am 23. März im Kanzleramt empfängt, ist dies ein grosses mediales Ereignis. Denn beide gelten damals als Antipoden der Politik in Europa: Dort der linke, krawattenlose 40-Jährige, der angetreten ist, nicht nur die Politik in Griechenland, sondern in der ganzen EU nach links zu rücken. Dort die seit fast zehn Jahren regierende 60-jährige CDU-Politikerin, die in Nordeuropa als Garant für eine sparsame Haushaltspolitik gesehen, gerade in Griechenland aber als Symbol einer kalten Sparpolitik gebrandmarkt wird.
Seither gleicht die Beziehung der beiden Regierungschefs einer Achterbahnfahrt - bei der am Freitag mit der Ankündigung eines Referendums ein neuer Tiefpunkt erreicht wurde. Eine Chronik der Entwicklung:
Erste Phase, 16.März - Suche nach Vertrauensbasis
Schon am 16. März beendet ein Telefonat Merkels mit Tsipras die Sprachlosigkeit zwischen der Linksaussen-Rechtsaussen-Regierung in Athen und der Bundesregierung. In den Wochen vorher hatten sich deutsche Politiker und Spitzenbeamte erst gewundert und dann geärgert, dass die Neulinge in Griechenland systematisch einen Bogen um Berlin machten.
Im März ist dies von beiden Seiten nicht mehr haltbar: Denn Tsipras wollte von Anfang an nur eine Verständigung auf Chefebene. Also muss er irgendwann auch mit der Regierungschefin des grössten Euro-Landes reden. Merkel wiederum will den EU-Partnern, Amerikanern und Chinesen auf jeden Fall beweisen, dass sie alles tut, um Griechenland im Euro zu halten.
Anfangs klappt dies: Tsipras hält sich gerade bei den ersten Gesprächen strikt an die vereinbarte Vertraulichkeit - selbst zur Verwunderung der griechischen Journalisten. Merkel wiederum hält sich trotz der Differenzen mit öffentlicher Kritik zurück. So sehr, dass in einigen Medien schon über Sympathien der Kanzlerin für Tsipras spekuliert wird.
Merkels mütterliche Gefühle als «wilde Fantastereien»
Als «wilde Fantastereien» werden im Kanzleramt Berichte bezeichnet, wonach die Kanzlerin für den jungen Wilden aus Athen sogar mütterliche Gefühle aufbringt. «Aber die Basis für einen vertrauensvollen Umgang wurde schon gelegt», heisst es in deutschen Regierungskreisen.
Beide beherrschen die mediale Bildsprache. Bei den häufigen Treffen etwa am Rande von EU-Gipfeln schüttelt man freundlich lächelnd Hände. In den bilateralen Gesprächen geht es vor allem darum, sich gegenseitig die unterschiedlichen Denkweisen zu erklären. Merkel versucht als dienstälteste EU-Regierungschefin dabei, dem Neuling Tsipras zu erklären, wie die EU mit Kompromissen funktioniert: Und mindestens bis Mai gibt es die Hoffnung, dass der Linkspolitiker letztendlich einlenken und innenpolitisch die Kraft haben wird, Reformen durchzusetzen.
Merkel hatte ähnliche Entwicklungen bei vielen Politikern erlebt, etwa bei Tsipras' Vorgänger Antonis Samaras oder dem irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny - die beide mit dem Wahlversprechen angetreten waren, die Spielregeln der EU zu ändern und dann in den Konsensstrom abbogen.
Erste Veränderung, 21. Mai - Ménage à trois mit Hollande
Die erste grosse Veränderung gibt es mit dem Dreierdialog mit Frankreichs Präsident Francois Hollande: Am 21. Mai setzen sich die drei in einem Hotel in der lettischen Hauptstadt Riga bei Mineralwasser, Kaffee und Knabbereien zusammen. Das Auslaufen des zweiten Griechenland-Hilfspakets am 30. Juni rückt näher.
Merkel und Hollande drängen: Falls Tsipras die nötigen Prozeduren - Einigung mit den Geldgebern, Zustimmung der Euro-Finanzminister, Zustimmung des griechischen Parlaments und Zustimmung etwa des Bundestages - noch absolvieren wolle, müsse er jetzt handeln. Wieder zeigt sich der griechische Ministerpräsident gesprächsbereit. Als «konstruktiv» bezeichnet die Bundesregierung deshalb die Gespräche.
Aus Sicht der Kanzlerin hat der Übergang zu den Dreiergesprächen gleich mehrere Vorteile: Zum einen will Merkel die griechische Strategie unterlaufen, die Schuldenkrise als griechisch-deutsches Duell zu inszenieren. Tatsächlich nimmt die Bundesregierung in den Debatten der Eurogruppe eine fast schon moderate Position ein.
Zum anderen wird die Botschaft an Tsipras deutlicher, weil sie von Merkel und Hollande überbracht wird: Europas Konservative und Sozialisten haben für Athen eine gemeinsame Botschaft. Die Versuche der Griechen, die EU-Partner gegeneinander auszuspielen, gelten seit Riga in der Bundesregierung als gescheitert.
Zweite Veränderung, 11.Juni - Das Vertrauen bröckelt
Mitte Juni setzt die zweite Veränderung im Verhältnis zwischen Merkel und Tsipras ein: eine deutliche Ernüchterung. Grund ist vor allem das Verhalten des Griechen nach dem EU-Lateinamerika-Gipfel am 10. und 11. Juni in Brüssel. Auch dort gibt es wieder ein nächtliches Spitzengespräch mit Merkel und Hollande.
Wieder gehen Franzosen und Deutschen aus dem Gespräch mit der Hoffnung, dass Tsipras die doppelte Botschaft nun verstanden habe: Hilfe nur gegen Reformauflagen, Verständigung nicht in Chefgesprächen, sondern auf der Expertenebene mit den Geldgebern. Aber kaum ist der Grieche zurück in Athen, ätzt die Regierung öffentlich gegen die Verhandlungen. «Es entstand das Bild eines doppelten Tsipras», sagt ein Regierungsvertreter in Berlin.
Mit den EU-Chefs redet der Grieche moderat, zuhause dagegen äussert er sich als Vorsitzender einer Linksaussen-Partei ideologisch. Seit dieser Erfahrung werden intern die Erfolgsaussichten immer schlechter eingeschätzt.
«Nur reden, um zu reden, bringt nicht viel»
Danach herrscht einige Tage Funkstille. Auch ein sichtlich verärgerter EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnt Telefonate und Treffen zunächst ab, weil Tsipras die persönlich zugesagten Reformvorschläge nicht liefert. «Nur reden, um zu reden, bringt nicht viel», heisst es.
Am 18. Juni mahnt Merkel in ihrer Regierungserklärung sehr deutlich Richtung Tsipras, dass die Zeit davonläuft. «Wenn die politisch Verantwortlichen in Griechenland diesen Willen aufbringen, dann ist eine Einigung mit den drei Institutionen immer noch möglich», sagt sie in Anspielung an die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfonds. Am 19. Juni erhört EU-Ratspräsident Donald Tusk dann aber doch den griechischen Wunsch nach einem Sondergipfel der Euro-Zone, den er für den 22. Juni in Brüssel einberuft.
Merkel ändert endgültig ihre Tonlage
Das ändert nichts daran, dass Merkel endgültig ihre Tonlage ändert. Innerhalb der Union und dem CDU-Bundespräsidium lässt sie jetzt zu, dass auch über Alternativen zur Griechenland-Rettung spekuliert wird. Der «Plan B» ist kein Tabu mehr. Der Sondergipfel bringt ohnehin keinen Fortschritt.
Am vergangenen Donnerstag schliesslich sagt sie auf einem Treffen der europäischen Konservativen vor dem EU-Gipfel in Brüssel, eine Lösung müsse bis zum Wochenende stehen. Sonst sei es zu spät. Dann beklagt sie öffentlich Rückschritte bei den Gesprächen der Griechen mit den Gläubigern. Zudem lehnt sie einen erneuten Sondergipfel der Euro-Zone ab. Diesen hatte Tsipras gefordert.
Am Freitagmorgen trifft sich Merkel erneut mit Hollande und Tsipras - wobei dieser das Referendum nicht erwähnt. Im Nachhinein ist dies der letzte Versuch einer Vermittlung. Denn am Abend ruft der Grieche beide an und teilt ihnen seinen Plan mit, für den 05. Juli eine Volksabstimmung anzusetzen.
Griechische Unterhändler ziehen sich aus Beratungen zurück
In Brüssel ziehen sich die griechischen Unterhändler aus den Beratungen mit IWF, EZB und EU-Kommission zurück. Am Samstag schliesslich lehnen die Euro-Finanzminister den griechischen Wunsch nach einer Verlängerung des zweiten Griechenland-Hilfspakets über Dienstag hinaus ab. Damit spitzt sich die Krise dramatisch zu.
Nach dem Bruch fasst der schon länger skeptische Finanzminister Wolfgang Schäuble die Bemühungen der Kanzlerin um Tsipras mit den Worten zusammen, Merkel habe ein «unermessliches Mass an Engagement und Geduld» gezeigt. Dies endet am Freitagabend.
(bloomberg/ccr)