Herr Hess, Sie sind im Herbst nach nur zwei Jahren freiwillig aus dem Nationalrat zurückgetreten. Genug gehabt?
Hermann Hess: Es war eine grosse Ehre. Als Nationalrat bekommt man viel Aufmerksamkeit in der Bevölkerung. Die Leute kommen auf einen zu, wollen wissen, was man zu diesem oder jenem denkt. Ich mochte das gerne.
Aber?
Der Aufwand war gross, die Einflussmöglichkeit aber gering. Die Rechnung ging nicht auf. Ich bin 66 Jahre alt, ich habe ein florierendes Unternehmen und zwei noch junge Kinder. Es war sinnvoller, das Feld einem anderen zu überlassen.
Parlament kommt von «parlare». Sie aber haben sich kein einziges Mal im Plenum zu Wort gemeldet. Warum?
Ich war in der Geschäftsprüfungskommission. Da macht man keine Gesetze und spricht deshalb auch nicht im Rat. Offenbar gehört es dazu, dass man sich in der Fraktion hintanstellen muss und dass es eine Zeitlang dauert, bis man zu einem Posten in einer bedeutenden Kommission kommt. Man setzte mich sozusagen auf die Warteliste. Bei der SVP wäre das vielleicht anders gewesen.
Wurden Sie von Ihrer Partei übergangen?
Das kann man so sehen. Ich möchte aber niemandem persönlich nahetreten. Doch warum sind in der Wirtschaftskommission des Nationalrats vier der fünf FDP-Vertreter Juristen? Gut, eine selbstständige und tüchtige Treuhänderin ist auch dabei. Aber kein grösserer Unternehmer. Da muss man sich nicht wundern, wenn die FDP keinen Einfluss in der Wirtschaftspolitik hat.
Aber die FDP gilt doch als Wirtschaftspartei.
Unternehmerisch denken und wirtschaftsfreundlich denken sind nicht dasselbe. Wirtschaftsfreundlich bedeutet, dass man die Positionen von Arbeitgeberverband und Economiesuisse kennt und vertritt. Der Unternehmer aber trägt das Risiko der eigenen Handlungen selber. Unternehmer geben die wichtigen Eckpunkte vor und lassen ihre Leute dann machen. In der Gesetzgebung aber will man alles und jedes in absoluter Perfektion und bis ins kleinste Detail regeln. Das ist der Instinkt der Juristen.
Die FDP hat also Berührungsängste mit Unternehmern?
Wer weiss. Eine Partei, die sich auch als Wirtschaftspartei bezeichnet, müsste jedenfalls schauen, wer da aus den eigenen Reihen ins Parlament gewählt wird und wie diese Parlamentarier am besten eingesetzt werden könnten. Ich bin ein Unternehmer, der viel durchgemacht hat – auch Phasen grosser Verluste. Heute bin ich erfolgreich: Der Verkehrswert des Immobilienportfolios meiner Firmengruppe beträgt über 400 Millionen Franken. Damit war ich wohl der grösste Unternehmer der FDP-Bundeshausfraktion. Zugleich bin ich ein erfahrener Arbeitgeber und Sanierer. Ich hätte wohl einiges beitragen können.
Sie hätten Vorstösse machen können, um auf sich aufmerksam zu machen.
Bei den vielen Vorstössen, die ohnehin lanciert werden? Nein, ich wollte die Bundesverwaltung nicht auch noch belasten. Diese Art detailversessene Politik liegt mir nicht. Zumal die grossen Themen stehen bleiben. Denken wir an die Unternehmenssteuerreform, die Rüstung, die Europapolitik und die Altersvorsorge. Da tritt das Parlament an Ort und Stelle.
Sie waren nirgends dabei, in keinem Verband, keiner Branche – ein bewusster Entscheid?
Ja. Ich wollte unabhängig sein. Deshalb habe ich auch darauf verzichtet, die beiden Zutritt-Badges für die Wandelhalle, die mir zustanden, zu vergeben. Doch dann musste ich feststellen, dass unabhängige Parlamentarier auch für die Medien weniger interessant sind.
Sie hätten doch aus Ihrer Unabhängigkeit Kapital schlagen können.
Das habe ich insofern getan, als ich stets offen meine Meinung gesagt habe – ohne Rücksicht auf Wiederwahlchancen.
Was ist denn Ihr Verständnis von Politik?
Ich finde, die Politik sollte sich grundsätzlich zurückhalten. Die Hyperaktivität der Politik ist schädlich, gerade für die Wirtschaft. Innovation und Wertschöpfung werden von der privaten Wirtschaft erbracht, nicht von der Politik. Wenn sich die Politik daran versucht, dann bläht das nur den Beamtenapparat auf. Die Politik sollte sich von unternehmerischen Aktivitäten fernhalten.
Sie hatten es in der Hand, etwas gegen die Überregulierung zu tun.
Ich habe entsprechende Vorstösse immer unterstützt – etwa den von Philippe Nantermod, meinem jungen Kollegen aus dem Wallis. Er hat versucht, den Taximarkt zu liberalisieren. Aber ansonsten habe ich mich auf die Hauptarbeit konzentriert, die ich als Parlamentarier zu leisten hatte.
Und die wäre?
Über die sehr vielen Geschäfte abzustimmen. Dazu gibt es zwar relativ kurze Diskussionen und Empfehlungen in der Fraktion. Aber nicht selten habe ich meine Meinung dann im Rat nochmals geändert, zumal ich überdurchschnittlich viel einfach zugehört habe, auch unseren Bundesräten, um die Vorlagen besser zu verstehen. Dies ist ja eigentlich auch die Aufgabe eines Parlamentariers.
Sie haben sich mit der Rettung der Schweizerischen Bodensee Schifffahrt (SBS) einen Namen als Privatisierer gemacht. Wie kam es dazu?
Die SBB wollten das Unternehmen loswerden und nach Deutschland verkaufen, weil sie damit Verluste machten. Ich habe dann zusammen mit Edgar Oehler, Beat Hirt und anderen innert drei Monaten 9 Millionen Franken bereitgestellt. Die ersten beiden Jahre hatten wir Probleme, auch bei der Pensionskasse. Sie wies eine Unterdeckung von 25 Prozent auf.
Was haben Sie getan?
Wir haben, mit der Zustimmung der Mitarbeitenden, bei den Leistungen Abstriche gemacht und 2 Millionen Franken in die Pensionskasse eingeschossen. Heute sind wir bei einer Deckung von 110 Prozent.
Wie geht es der Gesellschaft heute?
Wir haben 110 Vollbeschäftigte. Der Umsatz liegt bei 15 Millionen Franken. Unser Cashflow beträgt zwischen 18 und 20 Prozent. Wir nehmen keine Zinsen und Dividenden und die Verwaltungsräte arbeiten ohne Honorar. Das heisst, die flüssigen Mittel werden wieder investiert. Wir haben seit 2010 rund 25 Millionen investiert.
Dieses Know-how als Sanierer hätten Sie ins Parlament einbringen können!
Voilà. Deshalb hätte ich ja zum Beispiel sehr gerne einen Sitz in der Kommission für Gesundheit und soziale Sicherheit gehabt. Ich kenne mich mit den Sozialwerken aus – schliesslich bin ich seit vierzig Jahren Arbeitgeber. Ich weiss auch, was es heisst, eine Fabrik zu schliessen und für Hunderte von Leuten neue Arbeitsplätze finden zu müssen. Trotzdem hatte man für mich anscheinend keine Verwendung.
Zu den Aufgaben der Geschäftsprüfungskommission gehört, die Geschäftstätigkeit von SBB, Post und Swisscom zu überwachen. Wie muss man sich das vorstellen?
Ich habe mich immer wieder gewundert, wie wenig Bezug viele Parlamentarier zu unternehmerischen Fragen haben. Da hatten wir die Chefs und VR-Präsidenten der grossen Bundesbetriebe in der Sitzung, und dann spricht man über einzelne Zugverspätungen und Briefkastenbelieferungen. Dabei leisten Post und SBB Hervorragendes.
Sie zeichnen ein schlechtes Bild vom Parlamentsbetrieb.
Ich hatte den Eindruck, dass private Unternehmer nicht besonders willkommen sind. Das ist in der Bevölkerung deutlich anders. Da geniessen seriöse Unternehmer grosses Vertrauen. Sogar dann, wenn einer wie ich in meiner Zeit als Bekleidungsunternehmer gewaltige Verluste und Niederlagen erlitten hat. Man hat mir aber angerechnet, dass ich mich aus eigener Kraft herausarbeiten konnte.
Doch in Bern zählte das alles plötzlich nichts mehr?
Ich fürchte nicht. Denn man ist natürlich auch ein Konkurrent für die Mitglieder der eigenen Fraktion. Manche denken vielleicht, der hat in der Wirtschaft so viel Erfolg – jetzt kommt er auch noch in die Politik und will uns unsere Sitze in den wichtigen Kommissionen wegnehmen. Ich verstehe das durchaus. Für die Aussenwirkung der FDP ist es aber nicht optimal.
Die Politkarrieristen in Bern haben es nicht gern, wenn Unternehmer politisieren?
Ich will niemanden verletzen. Aber für viele Parlamentarier ist ihr Mandat etwas vom Wichtigsten, was sie in ihrem Leben erreichen. Deshalb haben viele auch so Mühe, loszulassen. Es hat halt was, wenn man sich am Morgen beim Rasieren im Spiegel anschaut und sagen kann: Guten Morgen, Herr Nationalrat. Da fühlt man sich schon wichtig. Bei mir war das auch nicht anders.
Waren Sie zu blauäugig?
Sicher zu unerfahren und zu wenig taktisch – ich war nie ein Taktiker. Für mich war das Nationalratsmandat weder Herzenswunsch noch Lebensziel. Das ist bei den meisten anderen anders. Deshalb gibt es ja den ganzen Aktivismus mit den Vorstössen.
Ein Beispiel?
Nehmen wir die Digitalisierung. Sie findet seit dreissig Jahren statt und wurde nicht vom Staat initialisiert. Sie durchdringt mittlerweile fast alle Bereiche unseres Lebens. Doch ich kenne keinen Unternehmer, der um der Digitalisierung willen digitalisiert. Man digitalisiert, weil man sich einen Vorteil davon verspricht. Weil man damit rascheren Zugang zu seinen Kunden erreichen, zusätzliche Umsätze generieren oder Kosten senken kann. Auch der Bund digitalisiert, und dies in vielen Bereichen sehr erfolgreich. Wichtig sind seitens der Politik vor allem gewisse Rahmenbedingungen. In der politischen Diskussion aber ist die Digitalisierung zu einem Schlagwort verkommen.
Auch Johann Schneider-Ammann war Unternehmer. Gibt er zu wenig Gegensteuer im Bundesrat?
Nein, er macht seine Sache sehr gut. Er ist zwar nicht unbedingt ein Rhetoriker, aber ein gescheiter Mensch. Er sagt nicht zu allem etwas, sondern konzentriert sich auf einige wenige, wichtige Aspekte, genau wie er das wohl als Unternehmer gelernt hat. Ihm geht es um die Schaffung von Arbeitsplätzen, um gute Ausbildung und den Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen. Das ist ein gutes Programm.
Derzeit legt er sich mit den Bauern an.
Ja, zum Glück. Ich bin Thurgauer. Die Leute hier glauben, wir würden von der Landwirtschaft leben. Dabei lebt die Landwirtschaft von uns. 110 Millionen Franken bekommen die 7000 Thurgauer Bauern jedes Jahr vom Bund. Derweil wird im Grossen Rat regelmässig über kleine Positionen von einigen hunderttausend Franken heftig diskutiert. Wenn Schneider-Ammann den Bauern nun mehr Freihandel verordnen will, dann tut er genau das Richtige. Zumal vom Grenzschutz nicht in erster Linie die Bauern, sondern vor- und nachgelagerte Unternehmen profitieren.
Wie kommen Sie denn darauf?
Die Bauern haben es fertiggebracht, mit der ihnen gehörenden Fenaco ein Unternehmen aufzubauen, das nicht nur hoch profitabel ist, sondern mit nur 10 000 Mitarbeitern auch fast gleich viel Umsatz macht wie die 160 000 Bauern im Land. Die Fenaco profitiert gleich zweimal von den Bauern. Zuerst verkauft sie ihnen teuer Maschinen, Düngemittel, Futtermittel und Treibstoff. Und dann kauft sie den Bauern ihr Getreide, ihre Rüebli und ihre Kartoffeln zu Tiefstpreisen ab. Die Fenaco und andere Grossabnehmer wie die Migros und Coop streichen die Marge ein und die Bauern bleiben auf der Strecke.
Im Parlament dürfte der Abbau des Grenzschutzes trotzdem chancenlos bleiben.
Vielleicht. Denn wenn es um bäuerliche Anliegen geht, dann kippt jeweils die Hälfte des Nationalrats. Und alle vergessen plötzlich ihre Wähler, die nicht nur für diese Subventionen zahlen, sondern auch noch 30 bis 50 Prozent höhere Preise in Kauf nehmen müssen. Das ist Realitätsverweigerung.
Das gilt auch für Ihre eigene Partei.
Leider. Vor allem in der Westschweiz hört man dann: Wir haben halt so viele Bauern im Kanton. Was objektiv gar nicht stimmt. Und dann verneigt man sich vor dem Bauernverband, der 3 Prozent der Erwerbstätigen vertritt.
Warum haben Sie das nie am Rednerpult gesagt?
Wenn man nicht Kommissions- oder Fraktionssprecher ist für eine Vorlage, dann macht das doch keinen Sinn. Bei der Debatte über die Ernährungssicherheit standen bereits 76 Redner auf der Liste. Spätestens beim fünften war alles gesagt. Das ist nur Zeitverschwendung.
Hat die FDP Ihren Rücktritt bedauert?
Einzelne Kollegen gewiss. Als ich sagte, dass ich aufhöre, gab es einen kleinen Anlass – aber von der SVP. Da waren Roland Büchel, Thomas Matter, Thomas Aeschi, Beat Arnold, Marcel Dettling, Magdalena Martullo-Blocher und noch einige andere. Sie haben mich eingeladen. Das hat mich gefreut. Es war ein gemütlicher Abend.
Fühlten Sie sich der Unternehmerin Martullo-Blocher näher als Ihrer Partei?
Nein. Aber sie ist für die Schweizer Politik ein Glücksfall. Wir müssen dankbar sein, dass sich eine so kluge und erfolgreiche Unternehmerin und Milliardärin in der Politik engagiert.
Ihrer Partei werden Sie also trotzdem die Stange halten?
Auf jeden Fall. Ich werde mich weiterhin für die FDP engagieren. Ich möchte auch weiterhin bei den «Freunden der FDP» dabei sein und werde die Partei finanziell unterstützen. Es gibt in Europa kaum noch bedeutende liberale Volksparteien von der Art der FDP. Sie hat eine beachtliche Ausstrahlung. Das ist gut so.