«Ich mach jetzt Downhill!», strahlt Tim, ein alter Bekannter. Das heisst, er brettert auf einem Velo mit extrabreiten Schlappen steile Waldwege hinunter. Profis schaffen Tempo 70. «Aber die 50 pack ich auch», sagt Tim mit siegesgeschwellter Brust.

Tim ist 43, Projektmanager, hat einen Pep-Guardiola-Hintern, seiner blonden Hanna ist er (wahrscheinlich) trotzdem treu ergeben. Die Tochter des Paars ist drei. Ein typischer Fall. Tims, Danis und Peters gibt es jetzt viele, sie sind eine Art neue Männerrasse. Zwischen Ende 30 und Ende 40, beruflich erfolgreich, Family. Das Lat-Ziehen und die vier Sätze à 15 an der Schulterpresse im Fitnessstudio sind ihnen zu öde. Freitag um 18 Uhr gehts ins Freie, die Wildsau rauslassen: im Kanu durchs Wildwasser manövrieren, durch schrundige Schluchten turnen, sich am Seil schroffe Felsmassive hochplagen. Selten zur Freude der Frau: «Am Montag geht er auf dem Zahnfleisch», bemerkt Tims Hanna spitz, aber nur hinter seinem Rücken.

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Schneller, höher, weiter!

Doch was kann unsereins schon machen? «Der Zeitgeist heisst: Schneller, höher, weiter!», erklärt Marco Caimi, Mediziner, Jahrgang 1962, der in Basel die erste Praxis der Schweiz nur für Männer betreibt. Er kennt die psychischen und physischen Befindlichkeiten seiner Geschlechtsgenossen in- und auswendig. Er selbst hat in den 1980er Jahren Volksläufe und Marathons am Fliessband bestritten. Da habe «das alles angefangen mit dem Extremsport».

Bei seinerzeit so gut wie frauenfreien Dauerläufen entdeckten die Jungs ihren Körper als Waffe im Kampf um die Salärerhöhung. Im Büro prahlten sie am Montag mit ihren Zeiten, «in manchen Chefetagen war einer erledigt, wenn er den Marathon nicht unter drei Stunden lief», sagt Caimi.

Durch die Arktis

Bei den Volksläufen profiliert sich heute die Pilates- und 50+-Kundschaft. Kein Kaliber mehr für den Mann von heute. Der letzte Schrei ist gerade der Marathon durch die Arktis. Triathlon für Ironmänner geht dort leider nicht, denn Velofahren und Schwimmen im Eis bleibt vorerst Utopie. Für die halsbrecherischen Bubenspiele - von Canyoning bis Riverrafting - haben die Versicherer längst ein schönes Amtsdeutsch-Wort geprägt: «Wagnissportarten». Haut es einen dummhin, können ihm Taggelder, Renten etc. um 50 Prozent gekürzt werden. Bloss bremst das keinen. «Männer haben Schwierigkeiten damit, sich hinzusetzen und zu kontemplieren», sagt Caimi.

Und Frauen haben Schwierigkeiten, den Kerl zu verstehen. Warum riskiert der seine Knochen? Unsere Männer, das sind doch keine armen Schweine mehr! Die dürfen laut sagen, ich sterbe nicht fürs Vaterland, die dürfen zugeben, dass sie weder von Waschmaschinen noch von Backöfen was verstehen und in der Öffentlichkeit heulen wie Schlosshunde - und wir mögen sie trotzdem! Genug ist wohl nicht genug. Bei Tim, dieser Wochenend-Wildsau, fällt einem ein Begriff des Verhaltensforschers Konrad Lorenz ein: «Verhausschweinung». Er meinte damit, dass die weichgespülte Zivilisation den smarten Steinzeitgenossen zur Dumpfbacke zurückbildet.

Tagesablauf stark normiert und formalisiert

Klingt böse, aber triffts auch recht gut. Ist die Welt des heutigen Leistungsträgers nicht wie ein riesengrosser, sauberer, durchautomatisierter Stall? «Der Tagesablauf ist gerade bei erfolgreichen Männern, Managern, stark normiert und formalisiert», sagt ein weiterer Experte, der weiss, wie Männer ticken, Josef Sachs, Psychiater und Doyen der Schweizer Forensik, jetzt Chef der Psychiatrischen Dienste Aargau.

Ein auf Erfolg dressierter Angestellter muss sich ducken und buckeln und teamworken, damit das Ziel des Mastbetriebs erreicht wird: jedes Jahr drei Prozent mehr Speck auf die Rippen der Wirtschaft! Aber dafür darf er sich keine Abweichung leisten: Hat er mit nicht ganz wasserdichten Zahlen jongliert, rückt ihm die Rechtsabteilung auf den Hals. Guckt er der neuen Assistentin eine Sekunde zu lang auf die Knie, darf er in der Personalabteilung antraben.

Country Fries adieu

Das über die Spesenabrechnung erschummelte Fläschchen Jahrgangs-Chablis ist ein riskantes Abenteuer: Gehts schief, wetzt der Controller das Messer. Aber Alkohol ist sowieso so tabu wie die Marlboro, und beim Businesslunch ordert er eine homöopathische Dosis Omega-3-säurehaltigen Seeteufel. Tschüss Filetsteak, adieu Country Fries. Doch zu jammern gibt es nichts - an der feindlichen Übernahme durch das System FRAU arbeiten die Herrschaften fleissig mit: Warum kann heute das zierlichste Persönchen die grössten Offroader-Bullen in kleinste Lücken zirkeln? Dank Parkierhilfe, vom Manne erfunden. Kommt das selbstfahrende Auto, erübrigt sich auch die Werhat- das-grösste-Auspuffrohr-Frage, die letzte Rangelei unter grossen Buben.

Dabei brauchen Männer das von Kind an, Balgereien, Sich-Messen, «das freie Spiel», wie sich Josef Sachs ausdrückt. Das «Bedürfnis nach Risiko» rumore auch in den Tims und Danis und Peters wie in Jünglingsjahren, körperlich seien 30- bis 50-Jährige «viel fitter als Generationen vor ihnen».

Allerdings immer noch nicht so fit wie die Vorzeige-Alten: Willy Bogner, der mit seinen 73 die Hänge runterhobelt wie ein 30-Jähriger. Oder die 91-jährige ehemalige Krebskranke, die kürzlich in Kalifornien einen Marathon absolvierte. Da muss es dem noch juvenilen Weekend-Extremisten Tim ergehen wie einer Frau, die sich mit 45 in den roten Minirock zwängt. «Wenn Sharon Stone das kann, kann ich das auch. Geht doch noch, oder?»

Selbstüberschätzung

Geht leider oft halt nicht. Downhillen, Riverrafting, was auch immer, eröffnet auch freie Bahn zur Selbstüberschätzung. Das Leben im Stall hat das Feeling für die Wildbahn absterben lassen. «Das Körpergefühl existiert nicht mehr in dem Masse wie früher. Die Übung für das freie Sich-Erproben in unbekanntem Terrain fehlt», sagt Sachs. Der Hang zum Risiko sei «legitim», gibt er zu. «Aber ein erwachsener Mann trägt Verantwortung für Frau, Kinder, den Beruf. Ein Unfall hat bei ihm ernstere Folgen.»

Aber was brächte einen echten Kerl dann zum Strahlen? Mediziner Caimi meint: Gelassenheit. Ruhiger werden, im Trab durch ein schönes Stück Natur joggen. Oder: mal ein Buch lesen.

Sorry! Tim, wie er sichdurchdie Gedankengänge von Marcel Proust hangelt oder sich durch den Hemingway quält? So happy wie beim Downhill bei Tempo 50 wird er damit erst, wenn irgendwann jemand die Pille erfindet, die diesen Kick auch beim Lesen verschafft. Bis dahin will sogar Hanna ein Auge zudrücken: «Weisst du, er braucht das halt. Einer, der es im Job so weit gebracht hat, kann ja nicht völlig unvernünftig sein.»