BILANZ: Frau Stern, wovon hängt eigentlich ab, wie gut ein Kind lernt?

Elsbeth Stern: Von der Intelligenz und diese wiederum von den Genen. Man kann kein Genie erzeugen.

Was ist der aktuelle Konsens in der Wissenschaft über den Einfluss von Genen und Umwelt auf die Intelligenz?

Das Gerangel um Zahlen trifft nicht den Kern der Sache. Es gibt Gene, die unter unterschiedlichen Umweltbedingungen zur gleichen Merkmalsausprägung führen. Beispielsweise Gene, die für die Hautfarbe zuständig sind. Andere Gene wie diejenigen, welche die Intelligenz beeinflussen, können sich lediglich unter bestimmten Bedingungen entfalten. Ein Kind, das optimal gefördert wird und einen Intelligenzquotienten (IQ) von 120 erreicht, hat aus seinen Genen wahrscheinlich sein Optimum herausgeholt. Bei einem Kind, das einen IQ von 110 aufweist, aber weniger intensiv gefördert wurde, weiss man hingegen nicht, was möglich gewesen wäre. Die Möglichkeiten sind allerdings nicht grenzenlos.

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Intelligenz kann also nicht mit Kursen erkauft werden?

Nein. Und man kann nicht eindeutig von der Intelligenz der Eltern auf die des Kindes schliessen. Wenn zwei sehr intelligente Leute ein Kind haben, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass ihr Kind etwas weniger intelligent sein wird als sie selbst, weil es nach oben Grenzen gibt. Zwei nicht so helle Lichter haben andererseits mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Kind, das intelligenter ist als sie.

Warum schicken immer mehr Eltern ihre Kinder in Förderkurse und Nachhilfeunterricht?

Sie haben Angst, dass ihre Kinder den Anschluss verpassen. Bei Eltern, die intelligent sind und in der Gesellschaft weit oben stehen, kommt zusätzlicher Druck auf, dass auch ihr Kind reüssiert. Das ist menschlich. Aber ein Kind von intelligenten, erfolgreichen Eltern, welches das Gymnasium nicht packt, ist nicht krank oder falsch erzogen, die Kombination von Genen bei der Befruchtung ähnelt einfach einem Vabanquespiel.

Trotzdem wollen alle ihre Kinder ins Gymnasium schicken.

Ja, es entsteht zuweilen der Eindruck, man könne die Matura kaufen, wenn man Daten zum Einfluss der sozialen Herkunft sieht. Daten aus Deutschland zeigen, dass Oberschichtkinder mit unterdurchschnittlichem IQ eine beachtliche Chance haben, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen. Hingegen ist für Kinder aus unteren sozialen Schichten, die einen weit überdurchschnittlichen IQ haben, eine Empfehlung nicht selbstverständlich. Und das bei einer Gymnasialquote von gegen 40 Prozent. Es kann aber nicht im Interesse einer Gesellschaft sein, dass dank Förderkursen unzureichend intelligente Oberschichtkinder ins Gymnasium kommen und dort die Plätze besetzen. Es sollten die richtigen Kinder ins Gymnasium gehen können, also solche, die intelligent und leistungsbereit sind.

Was halten Sie von Frühförderung?

Sie basiert auf der Annahme, es gebe sensible Phasen fürs Lernen und wer die verpasse, verpasse eine einmalige Chance. Bis heute fehlen die Belege, dass Frühförderung wirklich nachhaltige Auswirkungen auf den Erfolg des Kindes hat. Wir können auch mit 20 noch schreiben lernen. Schrift gibt es erst seit etwa 5000 Jahren, der genetische Bauplan für unser Gehirn ist aber nach allem, was wir wissen, mindestens 40 000 Jahre alt.

Wenn Sie Kinder hätten, wie würden Sie sie fördern?

Ich würde sicher nicht irgendwelchen Schnickschnack über die Wiege hängen, um Synapsenverbindungen zu fördern. Das kindliche Gehirn entwickelt sich weitgehend selbst gesteuert. Was Kinder unbedingt brauchen, ist emotionale Geborgenheit, Zuwendung – und sprachliche Interaktion. Deshalb halte ich die steigende Zahl der Handy-Eltern für ein schädliches Phänomen. Bereits sehr kleine Kinder erschliessen die Bedeutung der Welt vorwiegend aus der Sprache. Wenn Babys aber Sprache vorwiegend in Form von Handytelefonaten ihrer Eltern erleben, können sie damit nichts anfangen.

Und wie viel bringen eigentlichzweisprachige Kinderkrippen und Frühchinesisch?

Man sollte nicht zu grosse Erwartungen haben. Wer eine Sprache gut lernen soll, muss sie mindestens in 40 Prozent seiner Zeit sprechen. Das ist in der Regel aber nur gegeben, wenn ein Familienmitglied die entsprechende Sprache zu Hause spricht.