«Was macht Sie glücklich?», pflegt Michael Kastner, Professor für Organisationspsychologie an der Universität Dortmund, die Manager zu fragen, die bei ihm ein Life-Work-Balance-Seminar gebucht haben. Er gewährt ein paar Minuten zum Nachdenken, um dann zu behaupten: «Das verpassen Sie doch laufend!»
Kaum einer, den Kastner so nicht ins Grübeln bringt. «Die einen verdrängen das dann sofort wieder», sagt Kastner, «und werden früher oder später depressiv. Die andern suchen einen Weg zu mehr Glück.» Und dieser führt sie nicht selten aus ihrem Job in eine Lebens- und Arbeitsweise, bei der Freiheit mehr bedeutet als Macht und Einfluss und persönliche Zufriedenheit schwerer wiegt als Prestige und Status. Viel Gemeinsames haben diese Exmanager nach ihrer Zäsur nicht mehr. Dennoch lassen sie sich laut Kastner typisieren: «Es sind Leute mit viel Kraft, Mut – und Geld.»
Victor Bader ist ein Paradebeispiel. Er gehörte in den Sechzigerjahren zu jenen, die sich hier zu Lande als Opposition verstanden. Seine Anti-Establishment-Haltung wurde er auch in all den Jahren, in denen er als Kommunikationschef von Von Roll agierte, nie ganz los. «Ich war in der Geschäftswelt ein Exot», sagt Bader. Dann, eines Abends an einer rauschenden Geburtstagsparty, fasste er weinselig den Entschluss, «nicht bis 65 weiterzumalochen, Geld zu scheffeln und völlig auszubrennen».
Am Anfang hiess die Idee, zusammen mit Freunden eine Alterswohngemeinschaft zu gründen. Daraus reifte ein konkretes Projekt heran, das rund eine Million Franken gekostet hätte. Es löste sich in nichts auf, als Bader seine Freunde fragte: «Wie finanzieren wir das?» Ausser ihm und seiner Partnerin, Hedwig Ramseier, hatte keiner in der Clique ein regelmässiges Einkommen, Pensionskassen-Guthaben oder gar Geld auf der Seite. «Die Liquidität war gleich null.» Doch Bader wurde den Traum vom selbst bestimmten Leben in mediterranem Klima nicht mehr los. Fünfzehn Jahre ist das her.
Aus dem Kommunikationschef Bader ist inzwischen der «coltivatore diretto» Bader nahe des 100-Seelen-Dorfes Travale im Herzen der Toskana geworden, wo er 1997 mit seiner Partnerin, seinen Katzen, Hunden und Pferden ein neues Leben angefangen hat. Ihr ganzes Geld haben sie da reingegeben – und einiges dafür erhalten: zwei nach ihren Idealen renovierte Häuser mit insgesamt vier Wohnungen, ein Schwimmbad, einen Gemüsegarten, einen Olivenhain, einen Stall – und von früh bis spät das Gefühl, das Richtige zu tun.
Aus Bader ist eine Art bürgerlicher Lebenskünstler geworden. Er trinkt nicht mehr die edlen Roten, sondern die ehrlichen. Er speist nicht mehr in trendigen Fresstempeln, sondern veredelt die Gerichte, die seine Partnerin für Gäste kocht, indem er die dazu passenden Geschichten erzählt. Das Allerbeste von allem? «Ich führe das Leben, das ich mir gewünscht habe.» Mit «dolce far niente» hat dies nichts zu tun. «Um das Leben nun langsam wieder auf normale Beine zu stellen» (Bader), das heisst, Geld zu verdienen, greift er ab und zu als Ghostwriter in die Tasten. Seine Partnerin, ehemals stellvertretende Direktorin im Frauengefängnis Hindelbank, fängt zudem Anfang Januar im nahe gelegenen Drogenrehabilitationszentrum der Pro Juventute als Sozialarbeiterin an. Drittens haben die beiden nun sämtliche «permessi» beisammen, um unter www.casa-al-sole.com in ihrer beinah beklemmend schönen Welt «agriturismo» anzubieten.
Bader kündigte seine Berufskarriere im Alter von 52 Jahren. «Mit Anfang fünfzig aufzuhören, ist ein Wunsch, den ich häufig höre», sagt Michael Kastner, «ganz nach dem Motto ‹Nutze das System, solange du es aushältst, und dann nichts wie raus›.» Die Frage, ob es noch auszuhalten ist, beantworten immer öfter auch jüngere Erfolgreiche negativ und suchen nach Wegen, das Unvereinbare zu vereinbaren – sich zu verkaufen, ohne sich aufzugeben. Vor zwei Jahren hat der amerikanische Journalist David Brooks in seinem Buch «Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There» die aufkommende Elite des Informationszeitalters beschrieben, die «bourgois bohemians», kurz Bobos. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum, Geld zu verdienen, sondern darum, etwas zu tun, was Spass macht.
Reichtum? Macht? Prestige? Die 42-jährige Jana Caniga zuckt mit den Schultern. Es geht um Ideen. Und es geht darum, sie zu verwirklichen. Die Managementausbildung, welche die ehemalige «10 vor 10»-Moderatorin vor Jahren an der Hochschule St. Gallen berufsbegleitend absolvierte, sollte ihr eine neue Welt eröffnen. Tat sie auch: 1999 ist Caniga als Chefin beim Migros Kulturprozent Managerin geworden. Anfang September hat sie ihren Posten gekündigt. Warum? «Ich bin seit dreieinhalb Jahren hier und führe noch immer Grundsatzdiskussionen», sagt Caniga. Und überhaupt: «Ich bin nicht geboren zum Opfer eines Systems.» Gleich wie Ex-Von-Roll-Mann Bader hat auch sie sich in der Managerwelt nie ganz zurechtgefunden. Sie zupft am Rollkragen ihres Wollpullis: «Ich war nie bereit, mich zu uniformieren.» Kaum hatte sie sich ihr Unwohlsein eingestanden, riss das Band, das sie an die Berufskarriere zurrte.
Im Januar übernimmt sie die Verantwortung über den Gastrobetrieb der Ochsen Kultur AG in Wetzikon, auch die unternehmerische. «Ich brauche rund 1,5 Millionen Umsatz im Jahr», hat sie fürs Erste hochgerechnet – nachdem sie die letzten Jahre damit zubrachte, grosszügig Geld zu verteilen,. Die 150 000 Franken, die Caniga in ihr Lokal investieren will, hat sie bei einer Bank geliehen. «Ich habe kein Geld auf der Seite», erklärt Caniga, «habe stets alles ausgegeben, was ich verdiente.»
Caniga wechselt nicht ins Paradies. Und reich macht sie auch der «Ochsen» nicht. Sie wird sechs Tage die Woche arbeiten und mit etlichen Sorgen geschlagen sein, die davon kommen, dass sie vom Geschäft null Ahnung hat. Das weiss sie, und das wissen alle, die nicht müde werden, ihr zu ihrem Mut zu gratulieren. «Ich bekomme unglaublich viele Reaktionen in der Art, ich würde mich auch gern zurückziehen, etwas Eigenes auf die Beine stellen», sagt Caniga und fragt, «wie nennt man das? Kollektiver Traum?»
«Der Wunsch nach Selbstverwirklichung war schon immer da», sagt Michael Kastner, «wird aber immer stärker.» Der Katalysator heisst Druck: Globalisierungsdruck, der dadurch entsteht, dass geografische Distanz nicht mehr vor Konkurrenz schützt. Shareholder-Value-Druck, der jeden Posten in einen Schleudersitz verwandelt. Oder der ständige Veränderungsdruck, weil sich das Wissen der Welt alle viereinhalb Jahre verdoppelt.
Brooks Bobos, zwischen 20 und 40, steigen gar nicht erst ein in diese Tretmühle, sondern machen sich von Anfang an selbstständig. Immer mehr jung-alte Eingezwängte zwischen 50 und 60 «mit viel Saft in den Knochen» (Kastner) kommen zum Schluss, das Ganze nicht mehr nötig zu haben, und leisten sich mit ihrem über Jahrzehnte angehäuften Vermögen den Luxus, weniger zu verdienen. Markus Studer, seit 16 Jahren Herzchirurg am HerzZentrum Hirslanden, könnte getrost in den Ruhestand treten. Stattdessen macht sich der 56-Jährige selbstständig und erfüllt sich einen Bubentraum: Dr. med. Studer wird Lastwagenfahrer. Was kümmert ihn deren teils zweifelhafter Ruf! «Ich habe mich schliesslich auch nicht über den Ruf der Herzchirurgen definiert.» Übrigens sei ihm die Olma stets lieber gewesen «als diese hohlen Snobpartys».
Studer ist für seinen Traumberuf, den er 2003 beginnt, sozusagen bereit: Das Lastwagenbrevet hat er in der Tasche. Er weiss auch, dass seine Zugmaschine flüssige Lebensmittel, etwa 25 Tonnen Schoggicrème, durch Europa schleppen wird, und ist mit potenziellen Kunden bereits am Verhandeln. Aber noch ringt er mit der Frage: Ein Volvo FH 12, ein MAN TGA oder ein Mercedes Actros? Dabei hat er sich im Vorfeld der diesjährigen Lastwagenmesse in Hannover bereits für ein Gefährt entschieden, wollte eigentlich nur an die Messe, um zu ordern. Die Neuheiten haben den Technik- und Motorenfreak dann aber dermassen beeindruckt, dass er unverrichteter Dinge zu Skalpell und Tupfern zurückkehrte.
Studers Vorfreude auf sein Leben als King of the Road – «mein Truck wird herausstechen» – ist gross. Klar, er werde durch verstopfte Strassen schleichen und im Stau stehen. Doch er werde auch lange Fahrten machen durch schöne Gegenden mit guter klassischer Musik in der Kabine. Das wird ein Gefühl! Und der Kick des Unbekannten: Neue Kollegen, deftiges Essen in den Kneipen der Autohöfe, Nächte im Truck.
Studer hat sich für einen stressigen und harten Job entschieden. Als finanziell unabhängiger Unternehmer wird er versuchen, den Druck zu beherrschen: Er will Teilzeit arbeiten und sucht einen Kompagnon. Einen guten Teil der so gewonnenen Freizeit will er seiner Frau schenken, die zu seinem bevorstehenden Berufswechsel nur gesagt habe: «Wenn du das willst, dann mach es.»
Gleich hat auch Hans Geigers Frau reagiert, als ihr Mann damit liebäugelte, seine Bankerkarriere gegen einen allfälligen Professorenposten an der Uni Zürich einzutauschen. 1996 war Geiger bereits seit zehn Jahren Mitglied der Generaldirektion der Credit Suisse und wusste, dass er in der Bank, in der er seit 26 Jahren arbeitete, alles erreicht hatte, was es zu erreichen gab. «Ich wollte im Leben noch etwas ganz anderes machen», begründet Geiger seinen Berufswechsel. Dass er als Professor nur noch einen Bruchteil des CS-Lohns verdient, spielte keine Rolle. «Aufs Finanzielle kam es nicht so drauf an», sagt Geiger, «ich hatte gute Jahre, und wir pflegen keinen aufwändigen Lebensstil.» Seit fünf Jahren lehrt Geiger nun Bankwirtschaft. Den Wechsel hat er noch nicht eine Sekunde bereut. «Ich habe einen freien Beruf», beginnt er eine lange Liste von Vorteilen, die er abschliesst mit der Bemerkung, es sei schöner, unter jungen Leuten alt zu werden als unter alten. Als Hans im Glück macht er auch andere froh: «Meine Frau sagt, ich sei umgänglicher geworden.»
Geiger hatte anfangs keinen leichten Stand. Heute geniesst er einen guten Ruf auch bei den Theoretikern. Um Selbstvertrauen zu gewinnen, arbeitete er Lehrbücher durch und fragte den Assistenten am Ban/keninstitut Löcher in den Bauch. Heute hat er einen guten Ruf bei den Theoretikern – dank seinem Erfahrungswissen. In gut fünf Jahren wird er pensioniert. Als Professor der Uni Zürich. Denn so viel steht für ihn fest: «Ich will nicht mehr in eine exekutive Funktion zurück», sagt Geiger.
Nicht mehr zurück in den Beruf will auch Thomas Fischer. Seine 30-jährige Arbeitsphase als Finanzberater hat er dieses Jahr gegen ein neues Leben eingetauscht. Statt sich mit Geldfragen herumzuschlagen, fährt der passionierte Segler seit Mai dieses Jahres mit seinem Katamaran «Double Magic» übers Meer. «In der Schweiz habe ich alles liquidiert», sagt Fischer. Sein neues Zuhause allerdings hat er mit allen Finessen der modernen Kommunikation ausstaffiert, sodass er selbst vom Ende der Welt seine Freundschaften hier pflegen kann. Auf seiner Homepage www.doublemagic.ch erzählt er von seinen Abenteuern, Hochs und Tiefs. Wer Lust bekommt auf Fischers Welt, kann sich via Internet gleich für Ferien auf der «Double Magic» anmelden.
Fischer, der nach eigenen Angaben genug Geld auf die Seite gebracht hat, um den Rest des Lebens finanziell sorglos zu bleiben, hat für sein Abenteuer, den Globus zu explorieren, acht bis zehn Jahre eingeplant. Im Hinterkopf hatte er auch, dass er irgendwo und irgendwann auf seiner Reise seine weibliche Ergänzung finden würde. Als diese bereits im Juli in einem Strassencafé in Odessa am Nebentisch gesessen habe, sei er allerdings schon ein wenig überrascht gewesen, sagt Fischer. 34 sei sie, einsachtzig gross, blond, gescheit und bereit, mit ihm zu segeln. Der 56-Jährige, der nach zwei gescheiterten Ehen einst zum Schluss kam, nicht für die Zweierkiste geeignet zu sein, denkt nun wieder ans Heiraten und sogar an Familiengründung auf hoher See.
Weder Bader, Caniga, Studer, Geiger noch Fischer würden sich heute für ein Work-Life-Balance-Seminar einschreiben. Sie kennen die Antwort auf die Frage «Was macht Sie glücklich?». Und sie leben sie.
Victor Bader (57) Zivilstand: verheiratet. Beruf: bis 1997 Kommunikationschef von Von Roll, seither Kleinbauer in der Toskana. Warum sind Sie umgestiegen? Ich wollte nicht bis 65 malochen, Geld verdienen und völlig ausbrennen. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Mut und einen neuen gemeinsamen Lebensentwurf. Was hat Ihnen der Entscheid gebracht? Ich bin glücklich.
Jana Caniga (42) Zivilstand: geschieden, in fester Partnerschaft. Beruf: bis Ende 2002 Direktorin beim Migros Kulturprozent, ab 2003 Wirtin des «Ochsen» in Wetzikon. Warum steigen Sie um? Weil ich mehr Selbstbestimmung suche. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Ich sah, dass mein Partner für seine Ochsen Kultur AG keinen Wirt fand und es langsam spitz wurde. Was versprechen Sie sich von der Zukunft? Immer mehr zu mir zu kommen.
Markus Studer (56) Zivilstand: verheiratet, Vater von drei Kindern. Beruf: bis 2002 Herzchirurg am HerzZentrum Hirslanden, ab 2003 selbstständiger Trucker. Warum steigen Sie um? Ich will mir einen Traum erfüllen. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Einmal, dass ich das Ganze wirtschaftlich gelassen angehen kann. Zweitens, dass meine Familie den Wechsel akzeptiert und mitträgt. Was verspechen Sie sich von der Zukunft? Dass meine Lust an Reisen und Technik befriedigt wird.
Hans Geiger (59) Zivilstand: verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern. Beruf: bis Mitte 1997 Generaldirektor der Credit Suisse, seit 1. Oktober 1997 Professor an der Uni Zürich. Warum sind Sie umgestiegen? Bei der Bank war ich am Ende meiner Karriere. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit, mein Lehrer-Gen und einen Lehrstuhl, bei dem Praxisnähe gefragt war. Was hat Ihnen der Entscheid gebracht? Freiheit und mehr Lebensqualität.
Kaum einer, den Kastner so nicht ins Grübeln bringt. «Die einen verdrängen das dann sofort wieder», sagt Kastner, «und werden früher oder später depressiv. Die andern suchen einen Weg zu mehr Glück.» Und dieser führt sie nicht selten aus ihrem Job in eine Lebens- und Arbeitsweise, bei der Freiheit mehr bedeutet als Macht und Einfluss und persönliche Zufriedenheit schwerer wiegt als Prestige und Status. Viel Gemeinsames haben diese Exmanager nach ihrer Zäsur nicht mehr. Dennoch lassen sie sich laut Kastner typisieren: «Es sind Leute mit viel Kraft, Mut – und Geld.»
Victor Bader ist ein Paradebeispiel. Er gehörte in den Sechzigerjahren zu jenen, die sich hier zu Lande als Opposition verstanden. Seine Anti-Establishment-Haltung wurde er auch in all den Jahren, in denen er als Kommunikationschef von Von Roll agierte, nie ganz los. «Ich war in der Geschäftswelt ein Exot», sagt Bader. Dann, eines Abends an einer rauschenden Geburtstagsparty, fasste er weinselig den Entschluss, «nicht bis 65 weiterzumalochen, Geld zu scheffeln und völlig auszubrennen».
Am Anfang hiess die Idee, zusammen mit Freunden eine Alterswohngemeinschaft zu gründen. Daraus reifte ein konkretes Projekt heran, das rund eine Million Franken gekostet hätte. Es löste sich in nichts auf, als Bader seine Freunde fragte: «Wie finanzieren wir das?» Ausser ihm und seiner Partnerin, Hedwig Ramseier, hatte keiner in der Clique ein regelmässiges Einkommen, Pensionskassen-Guthaben oder gar Geld auf der Seite. «Die Liquidität war gleich null.» Doch Bader wurde den Traum vom selbst bestimmten Leben in mediterranem Klima nicht mehr los. Fünfzehn Jahre ist das her.
Aus dem Kommunikationschef Bader ist inzwischen der «coltivatore diretto» Bader nahe des 100-Seelen-Dorfes Travale im Herzen der Toskana geworden, wo er 1997 mit seiner Partnerin, seinen Katzen, Hunden und Pferden ein neues Leben angefangen hat. Ihr ganzes Geld haben sie da reingegeben – und einiges dafür erhalten: zwei nach ihren Idealen renovierte Häuser mit insgesamt vier Wohnungen, ein Schwimmbad, einen Gemüsegarten, einen Olivenhain, einen Stall – und von früh bis spät das Gefühl, das Richtige zu tun.
Aus Bader ist eine Art bürgerlicher Lebenskünstler geworden. Er trinkt nicht mehr die edlen Roten, sondern die ehrlichen. Er speist nicht mehr in trendigen Fresstempeln, sondern veredelt die Gerichte, die seine Partnerin für Gäste kocht, indem er die dazu passenden Geschichten erzählt. Das Allerbeste von allem? «Ich führe das Leben, das ich mir gewünscht habe.» Mit «dolce far niente» hat dies nichts zu tun. «Um das Leben nun langsam wieder auf normale Beine zu stellen» (Bader), das heisst, Geld zu verdienen, greift er ab und zu als Ghostwriter in die Tasten. Seine Partnerin, ehemals stellvertretende Direktorin im Frauengefängnis Hindelbank, fängt zudem Anfang Januar im nahe gelegenen Drogenrehabilitationszentrum der Pro Juventute als Sozialarbeiterin an. Drittens haben die beiden nun sämtliche «permessi» beisammen, um unter www.casa-al-sole.com in ihrer beinah beklemmend schönen Welt «agriturismo» anzubieten.
Bader kündigte seine Berufskarriere im Alter von 52 Jahren. «Mit Anfang fünfzig aufzuhören, ist ein Wunsch, den ich häufig höre», sagt Michael Kastner, «ganz nach dem Motto ‹Nutze das System, solange du es aushältst, und dann nichts wie raus›.» Die Frage, ob es noch auszuhalten ist, beantworten immer öfter auch jüngere Erfolgreiche negativ und suchen nach Wegen, das Unvereinbare zu vereinbaren – sich zu verkaufen, ohne sich aufzugeben. Vor zwei Jahren hat der amerikanische Journalist David Brooks in seinem Buch «Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There» die aufkommende Elite des Informationszeitalters beschrieben, die «bourgois bohemians», kurz Bobos. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum, Geld zu verdienen, sondern darum, etwas zu tun, was Spass macht.
Reichtum? Macht? Prestige? Die 42-jährige Jana Caniga zuckt mit den Schultern. Es geht um Ideen. Und es geht darum, sie zu verwirklichen. Die Managementausbildung, welche die ehemalige «10 vor 10»-Moderatorin vor Jahren an der Hochschule St. Gallen berufsbegleitend absolvierte, sollte ihr eine neue Welt eröffnen. Tat sie auch: 1999 ist Caniga als Chefin beim Migros Kulturprozent Managerin geworden. Anfang September hat sie ihren Posten gekündigt. Warum? «Ich bin seit dreieinhalb Jahren hier und führe noch immer Grundsatzdiskussionen», sagt Caniga. Und überhaupt: «Ich bin nicht geboren zum Opfer eines Systems.» Gleich wie Ex-Von-Roll-Mann Bader hat auch sie sich in der Managerwelt nie ganz zurechtgefunden. Sie zupft am Rollkragen ihres Wollpullis: «Ich war nie bereit, mich zu uniformieren.» Kaum hatte sie sich ihr Unwohlsein eingestanden, riss das Band, das sie an die Berufskarriere zurrte.
Im Januar übernimmt sie die Verantwortung über den Gastrobetrieb der Ochsen Kultur AG in Wetzikon, auch die unternehmerische. «Ich brauche rund 1,5 Millionen Umsatz im Jahr», hat sie fürs Erste hochgerechnet – nachdem sie die letzten Jahre damit zubrachte, grosszügig Geld zu verteilen,. Die 150 000 Franken, die Caniga in ihr Lokal investieren will, hat sie bei einer Bank geliehen. «Ich habe kein Geld auf der Seite», erklärt Caniga, «habe stets alles ausgegeben, was ich verdiente.»
Caniga wechselt nicht ins Paradies. Und reich macht sie auch der «Ochsen» nicht. Sie wird sechs Tage die Woche arbeiten und mit etlichen Sorgen geschlagen sein, die davon kommen, dass sie vom Geschäft null Ahnung hat. Das weiss sie, und das wissen alle, die nicht müde werden, ihr zu ihrem Mut zu gratulieren. «Ich bekomme unglaublich viele Reaktionen in der Art, ich würde mich auch gern zurückziehen, etwas Eigenes auf die Beine stellen», sagt Caniga und fragt, «wie nennt man das? Kollektiver Traum?»
«Der Wunsch nach Selbstverwirklichung war schon immer da», sagt Michael Kastner, «wird aber immer stärker.» Der Katalysator heisst Druck: Globalisierungsdruck, der dadurch entsteht, dass geografische Distanz nicht mehr vor Konkurrenz schützt. Shareholder-Value-Druck, der jeden Posten in einen Schleudersitz verwandelt. Oder der ständige Veränderungsdruck, weil sich das Wissen der Welt alle viereinhalb Jahre verdoppelt.
Brooks Bobos, zwischen 20 und 40, steigen gar nicht erst ein in diese Tretmühle, sondern machen sich von Anfang an selbstständig. Immer mehr jung-alte Eingezwängte zwischen 50 und 60 «mit viel Saft in den Knochen» (Kastner) kommen zum Schluss, das Ganze nicht mehr nötig zu haben, und leisten sich mit ihrem über Jahrzehnte angehäuften Vermögen den Luxus, weniger zu verdienen. Markus Studer, seit 16 Jahren Herzchirurg am HerzZentrum Hirslanden, könnte getrost in den Ruhestand treten. Stattdessen macht sich der 56-Jährige selbstständig und erfüllt sich einen Bubentraum: Dr. med. Studer wird Lastwagenfahrer. Was kümmert ihn deren teils zweifelhafter Ruf! «Ich habe mich schliesslich auch nicht über den Ruf der Herzchirurgen definiert.» Übrigens sei ihm die Olma stets lieber gewesen «als diese hohlen Snobpartys».
Studer ist für seinen Traumberuf, den er 2003 beginnt, sozusagen bereit: Das Lastwagenbrevet hat er in der Tasche. Er weiss auch, dass seine Zugmaschine flüssige Lebensmittel, etwa 25 Tonnen Schoggicrème, durch Europa schleppen wird, und ist mit potenziellen Kunden bereits am Verhandeln. Aber noch ringt er mit der Frage: Ein Volvo FH 12, ein MAN TGA oder ein Mercedes Actros? Dabei hat er sich im Vorfeld der diesjährigen Lastwagenmesse in Hannover bereits für ein Gefährt entschieden, wollte eigentlich nur an die Messe, um zu ordern. Die Neuheiten haben den Technik- und Motorenfreak dann aber dermassen beeindruckt, dass er unverrichteter Dinge zu Skalpell und Tupfern zurückkehrte.
Studers Vorfreude auf sein Leben als King of the Road – «mein Truck wird herausstechen» – ist gross. Klar, er werde durch verstopfte Strassen schleichen und im Stau stehen. Doch er werde auch lange Fahrten machen durch schöne Gegenden mit guter klassischer Musik in der Kabine. Das wird ein Gefühl! Und der Kick des Unbekannten: Neue Kollegen, deftiges Essen in den Kneipen der Autohöfe, Nächte im Truck.
Studer hat sich für einen stressigen und harten Job entschieden. Als finanziell unabhängiger Unternehmer wird er versuchen, den Druck zu beherrschen: Er will Teilzeit arbeiten und sucht einen Kompagnon. Einen guten Teil der so gewonnenen Freizeit will er seiner Frau schenken, die zu seinem bevorstehenden Berufswechsel nur gesagt habe: «Wenn du das willst, dann mach es.»
Gleich hat auch Hans Geigers Frau reagiert, als ihr Mann damit liebäugelte, seine Bankerkarriere gegen einen allfälligen Professorenposten an der Uni Zürich einzutauschen. 1996 war Geiger bereits seit zehn Jahren Mitglied der Generaldirektion der Credit Suisse und wusste, dass er in der Bank, in der er seit 26 Jahren arbeitete, alles erreicht hatte, was es zu erreichen gab. «Ich wollte im Leben noch etwas ganz anderes machen», begründet Geiger seinen Berufswechsel. Dass er als Professor nur noch einen Bruchteil des CS-Lohns verdient, spielte keine Rolle. «Aufs Finanzielle kam es nicht so drauf an», sagt Geiger, «ich hatte gute Jahre, und wir pflegen keinen aufwändigen Lebensstil.» Seit fünf Jahren lehrt Geiger nun Bankwirtschaft. Den Wechsel hat er noch nicht eine Sekunde bereut. «Ich habe einen freien Beruf», beginnt er eine lange Liste von Vorteilen, die er abschliesst mit der Bemerkung, es sei schöner, unter jungen Leuten alt zu werden als unter alten. Als Hans im Glück macht er auch andere froh: «Meine Frau sagt, ich sei umgänglicher geworden.»
Geiger hatte anfangs keinen leichten Stand. Heute geniesst er einen guten Ruf auch bei den Theoretikern. Um Selbstvertrauen zu gewinnen, arbeitete er Lehrbücher durch und fragte den Assistenten am Ban/keninstitut Löcher in den Bauch. Heute hat er einen guten Ruf bei den Theoretikern – dank seinem Erfahrungswissen. In gut fünf Jahren wird er pensioniert. Als Professor der Uni Zürich. Denn so viel steht für ihn fest: «Ich will nicht mehr in eine exekutive Funktion zurück», sagt Geiger.
Nicht mehr zurück in den Beruf will auch Thomas Fischer. Seine 30-jährige Arbeitsphase als Finanzberater hat er dieses Jahr gegen ein neues Leben eingetauscht. Statt sich mit Geldfragen herumzuschlagen, fährt der passionierte Segler seit Mai dieses Jahres mit seinem Katamaran «Double Magic» übers Meer. «In der Schweiz habe ich alles liquidiert», sagt Fischer. Sein neues Zuhause allerdings hat er mit allen Finessen der modernen Kommunikation ausstaffiert, sodass er selbst vom Ende der Welt seine Freundschaften hier pflegen kann. Auf seiner Homepage www.doublemagic.ch erzählt er von seinen Abenteuern, Hochs und Tiefs. Wer Lust bekommt auf Fischers Welt, kann sich via Internet gleich für Ferien auf der «Double Magic» anmelden.
Fischer, der nach eigenen Angaben genug Geld auf die Seite gebracht hat, um den Rest des Lebens finanziell sorglos zu bleiben, hat für sein Abenteuer, den Globus zu explorieren, acht bis zehn Jahre eingeplant. Im Hinterkopf hatte er auch, dass er irgendwo und irgendwann auf seiner Reise seine weibliche Ergänzung finden würde. Als diese bereits im Juli in einem Strassencafé in Odessa am Nebentisch gesessen habe, sei er allerdings schon ein wenig überrascht gewesen, sagt Fischer. 34 sei sie, einsachtzig gross, blond, gescheit und bereit, mit ihm zu segeln. Der 56-Jährige, der nach zwei gescheiterten Ehen einst zum Schluss kam, nicht für die Zweierkiste geeignet zu sein, denkt nun wieder ans Heiraten und sogar an Familiengründung auf hoher See.
Weder Bader, Caniga, Studer, Geiger noch Fischer würden sich heute für ein Work-Life-Balance-Seminar einschreiben. Sie kennen die Antwort auf die Frage «Was macht Sie glücklich?». Und sie leben sie.
Victor Bader (57) Zivilstand: verheiratet. Beruf: bis 1997 Kommunikationschef von Von Roll, seither Kleinbauer in der Toskana. Warum sind Sie umgestiegen? Ich wollte nicht bis 65 malochen, Geld verdienen und völlig ausbrennen. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Mut und einen neuen gemeinsamen Lebensentwurf. Was hat Ihnen der Entscheid gebracht? Ich bin glücklich.
Jana Caniga (42) Zivilstand: geschieden, in fester Partnerschaft. Beruf: bis Ende 2002 Direktorin beim Migros Kulturprozent, ab 2003 Wirtin des «Ochsen» in Wetzikon. Warum steigen Sie um? Weil ich mehr Selbstbestimmung suche. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Ich sah, dass mein Partner für seine Ochsen Kultur AG keinen Wirt fand und es langsam spitz wurde. Was versprechen Sie sich von der Zukunft? Immer mehr zu mir zu kommen.
Markus Studer (56) Zivilstand: verheiratet, Vater von drei Kindern. Beruf: bis 2002 Herzchirurg am HerzZentrum Hirslanden, ab 2003 selbstständiger Trucker. Warum steigen Sie um? Ich will mir einen Traum erfüllen. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Einmal, dass ich das Ganze wirtschaftlich gelassen angehen kann. Zweitens, dass meine Familie den Wechsel akzeptiert und mitträgt. Was verspechen Sie sich von der Zukunft? Dass meine Lust an Reisen und Technik befriedigt wird.
Hans Geiger (59) Zivilstand: verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern. Beruf: bis Mitte 1997 Generaldirektor der Credit Suisse, seit 1. Oktober 1997 Professor an der Uni Zürich. Warum sind Sie umgestiegen? Bei der Bank war ich am Ende meiner Karriere. Was hat es zum Entscheid gebraucht? Eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit, mein Lehrer-Gen und einen Lehrstuhl, bei dem Praxisnähe gefragt war. Was hat Ihnen der Entscheid gebracht? Freiheit und mehr Lebensqualität.
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