Als Thomas Gosteli in den Zug nach Lugano steigt, ahnt er nicht, wie hart dieser Tag ihn ausbremsen wird. Spät erkennt der Manager: Je schneller es wird, desto langsamer geht es voran. Nach einem dichten Terminreigen eilt der Geschäftsführer einer Schweizer Versicherung im April 2009 zu einer Präsentation ins Tessin. Sofort danach hastet er zurück nach Zürich, steigt in Arth-Goldau um, verpasst den Anschlusszug. Ein Miniproblem. Eigentlich. Reglos steht er auf dem Bahnsteig. Er sieht die Menschen, die Züge, hört die Lautsprecheransagen. Nur, all das sagt ihm nichts. Die Anzeigentafel zeigt ihm genügend spätere Züge an. Doch Gostelis Kopf füllt ein dumpfes Nichts.

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«Ich wusste nicht, was ich machen sollte», erinnert sich der heute 48-Jährige. Noch jetzt weiss er nicht, wie er nach Hause gelangte. Sein Arzt attestierte: Burnout. Dreieinhalb Monate später kehrte er in seinen Job zurück – nach einer Zeit ohne Antrieb, in Angst vor der Zukunft, gequält von Selbstzweifeln.

Das Schicksal von Swisscom-Chef Carsten Schloter, der sich im Juli das Leben nahm, versetzt Gostelis Gedanken zurück in die Leidenszeit. Wie Schloter im Frühjahr über seine Arbeitslast klagte und dann dieser Schlussstrich – «das hat bei mir alte Gefühle hochgebracht», sagt Gosteli. Wie Schloter kam auch er nicht mehr zur Ruhe, konnte das Tempo kaum senken, spürte zu viele Verpflichtungen. Im Arbeitstrab rannte er in eine Stressspirale.

Wirbeln statt nachdenken. Ein Wandel in der Firmenwelt zermürbt immer mehr Manager. Verbrachten frühere CEOs Stunden beim Lunch und debattierten mit Vertrauten, mutet die heutige Managergeneration wie ein Trupp von Spitzensportlern an, der von Match zu Match hetzt. Informationsflut, globale Konkurrenz und komplexe Konzerne zwingen sie zu schnellem Handeln. Das Tempo, in dem Spitzenkräfte heute ausgewechselt werden, untergräbt zugleich wichtige Netzwerke. Die Manager werden zu Einzelkämpfern, sie trifft der geballte Druck. Selbst der Verwaltungsrat, früher ein Verbündeter, setzt den Chefs stärker zu als je zuvor. Immer öfter klappen Topmanager wie Gosteli oder Ex-Sulzer-CEO Ton Büchner zusammen, der kurz nach seinem Antritt als Chef des Chemiekonzerns AkzoNobel monatelang pausierte.

Natürlich, die Manager werden fürstlich entlöhnt für ihre Gewalttour. Doch das Problem schädigt ganze Konzerne. Es dringt bis in die untersten Führungsetagen, lässt Fehlerquellen sprudeln. «Sie treffen kaum Chefs nachdenkend in ihrem Büro an. Dabei ist das Entwickeln der Strategie ihre Hauptaufgabe», warnt Norbert Thom, emeritierter Professor und Gründer des Instituts für Organisation und Personal der Universität Bern. Erste Gegenwehr zeigt sich: Sabbaticals selbst für CEOs, wie Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz eines in Kürze startet, sind in Mode. Topmanager quittieren den Job gar mitten in der Karriere ganz.

Notstopp. Vor Jahren undenkbar: Erste Topmanager verweigern sich der Arbeit am Limit – dabei kämen sie ohne unbedingten Karrierewillen und hohe Stressresistenz gar nicht erst an die Spitze. Im Mai kündigte Peter Voser, Chef des Energiemultis Shell, mit nur 54 Jahren den Rückzug an. «Ich fühle die Zeit gekommen, meinen Lifestyle zu ändern», sagte der Aargauer. Er wolle mehr Zeit für seine Familie haben. Ihm reichen nun Verwaltungsratsmandate. Mit 56 Jahren gab zuvor Michel Demaré seinen Job als Finanzchef von ABB auf. Seit April ist er Präsident von Syngenta – und atmet auf.

«Das Tempo hat sich erschreckend beschleunigt», sagt Demaré. So wie die ständige Erreichbarkeit Probleme sofort zur Sprache bringt, steigt umgekehrt auch die Erwartung schneller Lösungen. Manager verlieren jede Rückzugschance. Und das in einer Welt, in der Firmen nicht mehr auf wenige Absatzmärkte begrenzt sind. «Die globale Dimension hat das Leben der Topmanager verändert», sagt Demaré. Rund die Hälfte des Geschäfts spiele sich heute in den Schwellenländern ab. Die Unternehmen werden dadurch immer komplexer.

Demaré hat das Rennen atemlos gemacht. «Ich war völlig absorbiert von der Menge an Arbeit, Reisen, Meetings. Es hat mich zu frustrieren begonnen, dass ich kein Thema mehr tiefgehend angehen konnte.» Fremdbestimmt fühlte sich der Finanzchef – trotz seiner hohen Position. «Ich war mehr und mehr von Events getrieben. Ich verlor die Kontrolle über meine Agenda.» Mit dem Ausstieg hat er sie sich zurückerobert. Als Verwaltungsratschef von Syngenta, Vizepräsident der UBS und als Stiftungsratsmitglied der Businessschule IMD in Lausanne habe er nun «eine neue Karriere» mit mehr Raum.

Demaré hat mit seinem Schritt eine Freiheit erlangt, auf die andere Topmanager verzichten müssen. Der Sitzungsdauerlauf beginnt, Führungskräfte an den Rand des Erträglichen zu bringen – und selbst die Firmen. Managern fehlt zunehmend Zeit, sich zurückzuziehen, über die Strategie nachzudenken. Ein grosser Schaden für die Konzerne. «Ich habe nur noch selten in meinem Büro gesessen, um vorauszudenken, zu planen oder mich zu informieren», sagt Demaré. Das habe er zu Hause nachgeholt, ab 22 Uhr. So viele Dinge habe er im Blick haben müssen, dass ihm immer mehr die Distanz gefehlt habe für die Entscheidung, welches der beste nächste Schritt sei.

Ständig auf Stand-by. Kurz waren die Arbeitstage für Wirtschaftsführer nie. Aber so wie jetzt? «Früher hat ein CEO 60 Stunden in der Woche gearbeitet, heute sind es fast 100», sagt selbst Jean-Claude Biver, Präsident sowie einstiger CEO der Uhrenmarke Hublot und ein Arbeitstier. Ständig auf Stand-by, das bringe die Manager an den Rand ihrer Kraft, sagt Headhunter Bjørn Johansson, der seit 1980 Spitzenleute für Unternehmen auswählt. «Sie sind heute 24 Stunden unter Druck, denn sie arbeiten jetzt in einer globalen Wirtschaftswelt, und die schläft nie.» Die Balance zwischen Job und Privatleben lasse sich für Topmanager kaum mehr finden, stellt auch Headhunter Guido Schilling fest. «Heutige Manager hetzen rund um den Globus.» Die Rate derjenigen, die lange abwesend sind, steigt.

Zugleich sind die Ansprüche gestiegen. «Früher konnte der Chef sich auf die Arbeit seiner Firma konzentrieren. Heute ist der Kommunikationsbedarf von Aktionären, Mitarbeitern, Behörden enorm», sagt Organisationsexperte Norbert Thom. Gewinn allein reicht nicht, er muss sozial gerecht, ökologisch und ethisch richtig erwirtschaftet sein. Das war früher kein Thema. Jede Schwäche, selbst in einzelnen Quartalen, wird heftig kritisiert – mittlerweile sogar vom Verwaltungsrat. Nickten die Kontrolleure die Ergebnisse und Pläne der Geschäftsleitung einst meist ab, sind die Aufsichtsgremien dank Corporate-Governance-Regeln heute mit High Potentials bestückt und nehmen das Management gut informiert in die Zange. Um sich zu beweisen, stecken sich Manager immer ehrgeizigere Ziele, ihre Ambitionen sind oft höher als die Realität.

Der Verwaltungsrat hatte Thomas Gosteli schon zum Start als Geschäftsführer im September 2008 ein fast unerreichbares Ziel gesetzt. Bis Jahresende verlangte die Finanzmarktaufsicht Daten zum Risikomanagement. Drei Monate Zeit. Viel zu kurz. Der Chefposten war lange unbesetzt, nichts vorbereitet. Gosteli ackerte los. «Ich hatte das Gefühl, völlig auf mich allein gestellt zu sein», sagt er. Knapp schaffte er es. Doch das Tagesgeschäft türmte sich unerledigt.

Hohe Ausstiegshürde. Gosteli geriet in einen Teufelskreis. «Ich war wie im Flow. Nur zwei bis drei Stunden konnte ich schlafen, habe immer weniger gegessen, gearbeitet wie besessen.» Um acht Uhr früh war er im Büro, bis Mitternacht am Schreibtisch. Je mehr der Stress stieg, umso mehr sank seine Konzentration, umso stärker stresste er sich. Vor Ostern 2009 sollte ihn ein langes Wochenende mit seiner Partnerin im Zillertal in Österreich entspannen. Auf dem Rückweg liess er den Tankzapfhahn im Auto stecken und wollte losfahren, sagte dann wie abwesend drei Stunden kein Wort. Er ignorierte die Signale. Bis zum Totalausfall auf dem Bahnsteig.

Beim Managementberater Reinhard Sprenger landen viele an sich selbst gescheiterte Kader. «Gefährlich wird es für sie nur, wenn sie ihr Leben so gebaut haben, dass der Job ihr einziger Identitätsanker ist», sagt er. Manager fürchteten nichts so sehr wie soziale Bedeutungslosigkeit, sie inszenierten sich als unersetzlich. «Der Job ist dann das letzte Bollwerk ihrer Würde. Es verhindert, dass sie sich zur rechten Zeit angemessen zurückziehen.» Eines ist Sprenger aber wichtig: Manager seien keine Opfer. «Sie haben gewählt, was sie sind.»

Marcel Bernet wagt den Absprung. Und er spürt, wie schwer der fällt. Der PR-Berater verkaufte seine gut laufende Agentur im Juni an seine Mitarbeiter, nachdem er sie 22 Jahre lang aufgebaut hatte. Jetzt versucht er sich in seinem neuen Leben: ein Drittel als Bildhauer – sein Hobby seit fünf Jahren –, ein Drittel als Coach für Führungskräfte. Das letzte Drittel beinhaltet das Schwierigste: nichts. Als der 54-Jährige seinen Ausstieg plante, fertigte er eine Skulptur wie ein Sinnbild seines Zweifelns. Ein Mann liegt in einer an Kakteen befestigten Hängematte. Bernet fragte sich vor seinem Ausstieg: «Darf ich das? Wer bin ich, wenn ich nicht der Bernet von Bernet PR bin? Werde ich noch anerkannt?»

Mit Sabbaticals dürfen immer mehr Manager zumindest kurz den Kopf lüften. Viele Konzerne bieten Auszeiten von bis zu einem Jahr. Die Unternehmen erkennen, wie attraktiv sie so werden und wie gefährlich die Arbeitsüberlastung wird – auch für sie. Allerdings: Die Auszeiten helfen nicht gegen chronischen Stress. Sabbaticals seien wichtig, sagt Nestlé-Personalchef Peter Vogt. «Das ist aber nur ein Element, und es verhindert täglichen Stress und Burnout nicht.» Dafür macht der Konzern den Mitarbeitenden andere Angebote: anonyme Beratung bei Problemen, Fitnesscenter, neu lädt ein Raum zum Entspannen ein, eine Conciergerie übernimmt Einkäufe, Apothekenbesuche oder zu bügelnde Hemden. «Wir können heute nicht mehr so führen wie vor dreissig Jahren. Wir müssen die Mitarbeitenden flexibler und individueller unterstützen», sagt Vogt.

Angstspirale. Sabbaticals sind Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz, der ab Oktober zwei Monate Auszeit nimmt, wichtig als Dankeschön an die Kader, die so neue Erfahrungen sammeln können – aber auch als Bremse für übereifrige Manager. «Durch Sabbaticals setzen wir als Unternehmen ein Signal, dass Führungskräfte durchaus weggehen können», sagt er. Das Unternehmen sei stark genug organisiert, um die Zeit zu überbrücken. «Das braucht ein gewisses Vertrauen. Man muss auch mal Arbeit abgeben können. Das gilt auch für mich», sagt Vincenz. «Das ist keine One-Man-Show.»

Der Bankenchef spricht ein Problem an, das viele Manager ins Aus manövriert: Sie delegieren zu wenig. Dabei lassen sich gerade die heutigen komplexen Konzerne nicht mehr von oben dirigieren. «Manager haben öfters nicht genug Vertrauen in ihre Mannschaft», sagt Hublot-Präsident Biver zur Angst vieler Manager vor dem Abgeben. Ein Grund: der Stuhlsägekomplex. Vor 30 Jahren blieben CEOs bis zu 15 Jahre im Job, bauten stabile Netzwerke auf, jetzt bleiben ihnen im Schnitt vier Jahre. «Topmanager werden viel zu schnell durchgewechselt», kritisiert Biver. Sie gewinnen kaum Verbündete, ersticken sich lieber selbst in der Arbeit, als andere zu stärken. «Ich halte im Management langfristige Beziehungen für essenziell», sagt Vincenz.

Unter dem Eindruck, sich schnell beweisen und Gewinne hochtreiben zu müssen, restrukturieren Manager zuweilen zu viel, was die Netzwerke in unteren Managementebenen ebenso aufbricht. Diese erhielten zugleich pauschale Ziele gesteckt, gemäss denen das Ergebnis unabhängig von Aussenfaktoren um fünf oder zehn Prozent steigen solle, stellt Andreas Krause fest, Professor an der Hochschule für Angewandte Psychologie in Olten. «So entstehen Ertragsspiralen, der eigene Erfolg wird zur Gefahr.» Angst, nicht mithalten zu können, komme so auf.

Langjährige CEOs wie Andrew Walo haben dank ihrer grossen Erfahrung längst Rezepte gefunden, um sich in der Balance zu halten. Seit fast zehn Jahren steht Walo an der Spitze der börsenkotierten Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) und geht heute gleich mit dem Druck um wie früher: «Prioritätensetzung und Organisation sind alles.»

Das half auch Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel. 14 Jahre leitete er die Bahn und findet, die neue Managergeneration solle sich etwas mehr auf den tatsächlichen Job konzentrieren. Auch er nutzte klare Regeln: «Man kann von sich einen hohen Rhythmus verlangen, doch man braucht auch entsprechende Erholungszeit.» So habe er sich über Mittag stets eine Matte auf den Boden des Büros gelegt und zehn Minuten abgeschaltet. Regelmässig ging Weibel seine Leistung und Belastung anhand von 25 Kategorien durch, testete, wo er zu viel, wo zu wenig Zeit einsetzte.

Heute weiss Thomas Gosteli, dass er seine Grenzen ignorierte. «Damit bin ich in eine Falle gelaufen.» Gut ein Jahr arbeitete er nach dem Burnout weiter als Geschäftsführer der Versicherung, jetzt führt er die Servicesparte des Schweizerischen Versicherungsverbands. Dort könne er freier entscheiden, auch mal stoppen. «Ich delegiere mehr», sagt Gosteli. Ein Abend pro Woche bleibt frei für Verabredungen, die er jetzt auch einhält.

Sein Coach Horst Kraemer, der Gosteli wieder in die Balance brachte, beobachtet viele Manager, die ihr Stresssystem jahrelang im Kampfmodus halten. Dabei sei es nur für die «kurze Flucht vor dem Säbelzahntiger» gemacht. Aufgrund ihrer Leistung glaubten solche Manager, alle Probleme zu bewältigen, verlören sich in Einzellösungen und den Blick fürs Ganze. Sie vertagten sogar ihr eigenes Schicksal. «Sie leben so, als wäre ihr Leben eine Generalprobe für das, was dann kommt.»

Woran Sie merken, dass Sie an Ihre Grenzen gehen: Typische Frühwarnsymptome – die Checkliste unter 'Downloads' dieses Artikels.