Kann das Brexit-Votum wieder rückgängig gemacht werden? Vom britischen Parlament, dem nächsten Premierminister oder durch ein zweites Referendum? Für die Anhänger eines EU-Austritts wäre dies eine unzulässige Demokratieverweigerung, da sich 51,9 Prozent der Briten für einen Austritt aus der EU ausgesprochen haben. Die Befürworter eines Verbleibs träumen allerdings davon, dass das Votum wieder aufgehoben werden könnte.

Ein ranghoher EU-Diplomat bekundete am Sonntagabend seine «persönliche Überzeugung», dass die Briten «möglicherweise nie» den viel zitierten Artikel 50 des EU-Vertrags aktivieren werden, womit die Austrittsperspektive hinfällig wäre.

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Begeisterung hält sich in Grenzen

Die Aufgabe, offiziell den Austrittswunsch zu bekunden, soll ein neuer Premier übernehmen, der bis zum 2. September gewählt werden soll. Damit soll der Startschuss für zweijährige Verhandlungen fallen. Die Begeisterung der Brexit-Befürworter hält sich seit dem Votum vom Donnerstag jedoch scheinbar in Grenzen. Nur der Rechtspopulist Nigel Farage genoss seinen Triumph. Dies weckte die Vermutung, dass die Brexit-Anhänger, überfordert vom Ausmass des Erdbebens, versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

«Das ist nicht ausgeschlossen, wenn Grossbritannien in eine grössere wirtschaftliche Krise stürzt», vermutet Anand Menon, Professor für Politikwissenschaft am King's College in London. Für ihn beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass Grossbritannien offiziell seine Austrittsabsicht bekundet, bei 80 Prozent.

Warten auf neuen Premier

«Was auch immer geschieht, die Ernennung eines neuen Premiers muss abgewartet werden», fügt der Professor hinzu. Ausserdem müsse abgewartet werden, ob dieser sich für Neuwahlen entscheide, wie es Boris Johnson, der Favorit für die Nachfolge von Premier David Cameron, bereits angedeutet habe.

Das Fehlen einer schriftlichen Verfassung im Vereinigten Königreich erschwert die Ausgangslage, aber die Rechtsexperten sind sich sicher: Das Referendum muss nicht vom Parlament ratifiziert werden. «Die Angelegenheit fällt allein in den Zuständigkeitsbereich der Regierung. Das Parlament hat offiziell kein Mitspracherecht», sagt Alan Renwick, stellvertretender Direktor der Constitution Unit, einem Expertengremium.

Trotzdem fordern mehrere Abgeordnete eine Abstimmung im Unterhaus. «Dieses Referendum war konsultativ und verpflichtet zu nichts. Fast 500 (von 650) Abgeordneten haben sich für einen Verbleib ausgesprochen, sie haben die Macht, diesen Wahnsinn mit einem Votum im Parlament zu stoppen», erklärt der Labour-Abgeordnete David Lammy in einem offenen Brief.

«Politischer Selbstmord»

«Es ist nicht vorbei», bekräftigt auch der Anwalt Geoffrey Robertson und sagt, nur die Abgeordneten hätten die Befugnis, «Gesetze zu machen und ausser Kraft zu setzen». Bevor das Brexit-Verfahren in Gang gesetzt werde, müsse das Parlament das Gesetz über die EU-Mitgliedschaft aus dem Jahr 1972 zurückziehen. «Jeder Abgeordnete hat das Recht und die Pflicht, für einen Erhalt zu stimmen, wenn er der Meinung ist, dass es im Interesse Grossbritanniens ist.»

Neil Walker, Professor für öffentliches Recht an der Universität von Edinburgh, sieht das anders. Das Parlament habe seine Meinung schon kundgetan, indem es für die Organisation des Referendums gestimmt habe. «Wenn es sich erneut mit der Frage befasst, ergäbe sich ein Legitimitätsproblem.» Für Anand Menon wäre dies «politischer Selbstmord».

Beobachter schliessen neue Volksbefragung aus

Auch wenn die Zahl der Briten, die in einer Online-Petition ein neues Referendum fordern, bereits die 3,7 Millionen überschritten hat, schliessen die Beobachter kurzfristig eine neue Volksbefragung aus. «Das wird nicht geschehen. Man wird kein Referendum über das Ergebnis eines anderen Referendums abhalten», sagt Tony Travers von der London School of Economics.

Die Gesamtlage könne sich aber ändern, wenn die neue Regierung, die hinter dem Brexit stehe, scheitere und es Neuwahlen gäbe, stellt Neil Walker fest. «Wenn das neue Parlament dann mehrheitlich für die EU ist, hätte es ein klares Mandat, um das Scheidungsverfahren zu stoppen.»
«Dann wäre die Organisation eines neuen Referendums möglich», stellt Alan Renwick fest.

(sda/ccr)