«Wenn ich zu einem Termin fünf oder zehn Minuten zu spät komme, bin ich immer noch pünktlich.» Dieser Aussage stimmten bei einer Umfrage in Grossbritannien unlängst 46 Prozent der Personen zwischen 16 und 26 Jahren zu. Durchgeführt wurde die Umfrage von Meeting Canary, einem Dienstleister für Onlinemeetings. Andere Altersgruppen dagegen legten deutlich mehr Wert auf Pünktlichkeit. Nur 26 Prozent der Personen zwischen 43 und 58 Jahren fanden die zehnminütige Verspätung okay, unter den noch Älteren waren es nur noch 20 Prozent. 70 Prozent von ihnen gaben sogar an, «null Toleranz» für Zuspätkommende zu haben. Droht in puncto Pünktlichkeit ein neuer Generationskonflikt? Oder halten Schweizer Arbeitskräfte auch im Beruf den alten Wert hoch?
Aktuelle Umfragen dazu gibt es nicht, doch Kenner und Kennerinnen der Arbeitswelt beobachten ähnliche Tendenzen wie in Grossbritannien. «Es deutet sich ein Wandel im Zeitverständnis an», bestätigt Catherine Tenger, Expertin für Business-Interaktion aus Zürich. Sie berät tagtäglich Mitarbeitende dabei, ihren beruflichen Auftritt zu verbessern. Gerade bei den Jüngeren beobachtet sie das, was Experten als «polychrones» Zeitverständnis bezeichnen. «Man erledigt als Erstes nicht das, was auf dem Plan steht, sondern das, was Priorität hat. Ausserdem macht die junge Generation mehr Dinge parallel.» Das stehe im Widerspruch zum eher «monochronen» Zeitverständnis der älteren Mitarbeitenden, so Tenger. «In der Generation X gilt noch der Grundsatz ‹Immer eins nach dem anderen›.»
Die Jungen verpassen jede Woche 22 Prozent ihrer Deadlines
Rüdiger Maas überraschen die Umfrageergebnisse aus Grossbritannien ebenfalls nicht. «Junge Menschen finden es nicht so schlimm, zu spät zu kommen», bestätigt der Gründer und Vorstand des Instituts für Generationenforschung, Augsburg. Vom pauschal unpünktlichen Nachwuchs möchte er allerdings nicht sprechen. «Wenn es darum geht, den Ferienflieger zu bekommen, ist die Gen Z rechtzeitig am Gate», sagt Maas und schmunzelt.
Gerade im Job allerdings fällt die Pünktlichkeitsbilanz des Nachwuchses bescheiden aus. Laut einer anderen britischen Studie verpassen Mitglieder der Generation Z jede Woche 22 Prozent ihrer Deadlines, die Generation X dagegen reisst nur 10 Prozent der Abgabetermine, die Babyboomer liegen mit 6 Prozent noch darunter. Das hat Asana, ein Anbieter von Arbeitsmanagement-Software, herausgefunden. Mit fehlendem Arbeitseifer hat das übrigens nichts zu tun: Die jungen Briten machen im Schnitt 2,2 Überstunden pro Tag, doppelt so viel wie die alten Hasen.
«Es passiert nicht so viel, wenn ich zu spät komme»
Woher also kommt die Tendenz der Jungen zur Unpünktlichkeit? Ein einfacher Grund könnte sein, dass sie häufiger krank sind und deshalb ihre Fristen nicht einhalten. Tatsächlich haben die gesundheitsbedingten Ausfälle in dieser Gruppe in den letzten Jahren stark zugenommen. 2022 meldeten sich die 15- bis 24-Jährigen erstmals öfter krank als die 55- bis 64-Jährigen, zeigen Daten des Bundesamtes für Statistik BFS. Wobei die Jungen vor allem Probleme mit der psychischen Gesundheit («Mental Health») haben. Laut einem Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) kämpfen rund zwei Drittel der jungen Frauen mit Depressionen. In der Altersklasse von 55 bis 64 Jahren sind es nur halb so viele.
Manche Fachleute glauben, Corona habe den Umschwung beim Thema Pünktlichkeit ausgelöst. «Viele meiner Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen sind während der Pandemie in die Arbeitswelt gekommen. Entsprechend fehlt ihnen das Verständnis für viele Regeln», berichtet Trainerin Tenger. Andere Experten und Expertinnen weisen darauf hin, dass in der Pandemie jedes Meeting online stattfand – und technische Probleme an der Tagesordnung waren. So haben sich alle daran gewöhnt, auf den Kollegen oder die Kollegin warten zu müssen. Das habe gerade die Jungen geprägt – und zu Unpünktlichkeit erzogen, heisst es.
Generationenforscher Maas ist skeptisch. Seiner Meinung nach hat die Unpünktlichkeit andere Ursachen: Zum einen ist die nachwachsende Generation in einer Welt aufgewachsen, in der man – dank Handy – einen Termin jederzeit absagen oder verschieben kann. Zum anderen müssen Trödler immer weniger mit Sanktionen rechnen. «Es passiert nicht so viel, wenn ich zu spät komme», bringt Maas es auf den Punkt. Erscheint jemand zum Büromeeting unpünktlich, werde er häufig nicht einmal darauf angesprochen. Letztlich sei das eine Folge der Lage auf dem Arbeitsmarkt. «Talente sind knapp, deshalb muss kaum jemand Angst haben, dass man ihm wegen Unpünktlichkeit kündigt.» Aus diesem Grund habe Arbeit generell bei der Gen Z einen geringeren Stellenwert. Das persönliche Wohlbefinden steht für sie an erster Stelle. Die Jungen sehen nicht ein, weshalb sie sich für den Job stressen sollten – und dazu gehört auch, zu einem Termin zu hasten.
Die Pünktlichen gehen bald in Rente
Wie geht es weiter mit dem Thema Pünktlichkeit? Ist der urschweizerische Wert womöglich «on the way out»? Etikettetrainerin Tenger warnt davor, Umfragen wie diejenige aus Grossbritannien als Freibrief fürs Zuspätkommen zu verstehen. «Pünktlich zu sein heisst, Respekt für die Zeit des anderen zu zeigen.» Und das sei nach wie vor unerlässlich im Geschäftsleben, gerade im Erstkontakt. Jochen Menges, Leiter des Lehrstuhls für Human Resource Management and Leadership an der Universität Zürich, glaubt ebenfalls, dass Pünktlichkeit ein wichtiger Wert bleibt, auch in der jungen Generation. «Gerade ihr ist Wertschätzung im Arbeitsumfeld wichtig, das zeigen Umfragen», so der Psychologe. Und einen Termin einzuhalten, sei ein wichtiger Ausdruck von Wertschätzung.
Wobei sich die Frage, was pünktlich bedeutet, selten pauschal beantworten lässt. «In unterschiedlichen Teams ist auch ein unterschiedliches Zeitverständnis zu beobachten», so Menges. Ausserdem würden die Normen von der jeweiligen Aufgabe abhängen. «In kreativen Prozessen lässt sich oft ein eher polychrones Zeitverständnis beobachten.» Trainerin Tenger rät Mitarbeitenden grundsätzlich zu einem sorgsamen Umgang mit der Uhr. Wenn sich alle im Team schon gut kennen und damit einverstanden sind, könne man die Startzeiten eines Meetings auch entspannt handhaben – jedoch nur dann. «Von formal zu locker geht immer, aber nicht umgekehrt.» Auf lange Sicht allerdings könnte sich die entspannte Einstellung der Gen Z zum Mainstream entwickeln, meint Tenger. «Schliesslich gehen die pünktlichen Generationen bald in Pension.» Organisationspsychologe Menges ist anderer Meinung. Er erwartet, dass pünktliches Erscheinen in Zukunft sogar tendenziell wichtiger wird. «Wir sprechen immer mehr über Flex-Time und Remote Work, in diesem Kontext braucht man gleichzeitig Flexibilität und Struktur.» Und zur Struktur gehöre zum Beispiel auch, dass sich die Mitarbeitenden an die ausgemachten Präsenzzeiten im Büro halten.