Ins Ausland zu gehen, war lange ein guter Weg nach oben: Wer für seinen Arbeitgeber die Koffer packte, um eine Niederlassung in Asien oder in den USA aufzubauen, konnte nach der Rückkehr auf einen ordentlichen Karriereschritt hoffen. Kader zum Beispiel, die ein berufliches Gastspiel in China vorweisen konnten, hatten zuletzt glänzende Aufstiegschancen. Doch damit könnte bald Schluss sein. Denn die Corona-Krise hat nicht nur die Lieferketten für Computerchips oder Handy-Displays gestört, sondern blockiert auch den internationalen Talentfluss.
Viele Unternehmen können derzeit keine Mitarbeitenden mehr nach Übersee schicken, weil die Zielländer ihre Grenzen für Ausländer dichtgemacht haben. Das könnte auf lange Sicht negative Folgen haben. In London macht schon das Wort «Peak Expat» die Runde. Es bedeutet: Der Einsatz von sogenannten Expatriates (kurz: Expats) hat sein Allzeithoch erreicht und sinkt in Zukunft nur noch. Für Kader würde das bedeuten, dass ein wichtiger Aufstiegsturbo wegfällt. Kommt es wirklich so drastisch?
Schweizer Unternehmen sind derzeit eher in Warteposition. «Die meisten zukünftigen Auslandeinsätze wurden nach eingehender Prüfung bis auf weiteres verschoben. Wir gehen aber davon aus, dass auch in Zukunft Entsendungen stattfinden werden», sagt ein Sprecher der Credit Suisse. Ähnlich äussert sich der Aufzughersteller Schindler: Bei den Auslandentsendungen habe sich durch Covid-19 nichts grundlegend verändert, heisst es aus der Zentrale in Ebikon LU. Aufgrund von Reiserestriktionen hätten sich für einige wenige Expats lediglich Verzögerungen ergeben.
Der Technologiekonzern ABB betont, jede Entsendung werde individuell mit Blick auf die Sicherheit und das Wohlbefinden der Expats geprüft. «Im Moment wäre es jedoch verfrüht, etwas dazu zu sagen, ob die Krise einen Einfluss darauf hat, wie wir solche Entsendungen in Zukunft managen werden», so ein Sprecher.
Völlig zum Stillstand gekommen sind die Wanderungsbewegungen im Topmanagement jedenfalls nicht. «Es gibt weiterhin Entsendungen. Wir haben einige Fälle, bei denen der Arbeitsstart für August/September geplant ist», berichtet Gordana Muggler, Leiterin Global Mobility Services bei BDO Schweiz. Die Beratungsgesellschaft unterstützt Unternehmen bei der Entsendung von Mitarbeitenden sowohl ins Ausland auch als in die Schweiz, sie kümmert sich zum Beispiel um Entsendungsreglemente, Arbeitsbewilligungen, Steuerliches oder Vertragsgestaltung.
Normalisierung bis in einem Jahr
Marktkennerin Muggler beobachtet, dass vor allem grosse Firmen an ihren Entsendungsplänen festhalten. «Wenn sie gestoppt werden, handelt es sich meist um KMU, die noch keine starke Präsenz im Zielland haben.» Der grösste Unsicherheitsfaktor sei derzeit die Lage in den Zielländern, vor allem die offiziellen Regeln zur Einwanderung. Langfristig erwartet Muggler jedoch kein Austrocknen der Expatriate-Pipeline. Die Corona-Störungen hält sie für eine vorübergehende Phase, in der bestehende Reglemente in Bezug auf Sorgfaltspflicht und Kosten überprüft werden. «In sechs bis zwölf Monaten nehmen die Entsendungen wieder zu, wenn es die Situation erlaubt.»
Grundsätzlich waren die letzten Jahre günstig für reisefreudiges Führungspersonal. Die Zahl der Entsendungen ist stetig gestiegen. Das fein verzweigte Netz von internationalen Arbeitsbeziehungen wurde durch die Pandemie schwer gestört. Viele Länder haben Einreiseverbote für Ausländerinnen und Ausländer verhängt, gleichzeitig sitzen viele Expats in ihren Einsatzländern fest – und die Stimmung gegenüber Auswärtigen ist nicht immer freundlich.
In China lebende Westmanager berichten von offenen und versteckten Anfeindungen. Menschen drehen sich um, wenn ein Westler in den Aufzug steigt. Die Regierung des Golfstaates Oman hat seine Unternehmen sogar explizit aufgefordert, Expats durch inländische Kräfte zu ersetzen. Allerdings gibt es auch freundlichere Zielländer: Saudi-Arabien hat allen Expats, die an Covid-19 erkranken, eine kostenlose medizinische Behandlung versprochen.
Bei genauerer Betrachtung wird klar: Corona richtet überall dort den grössten Schaden an, wo es schon «Vorerkrankungen» gab. Das gilt nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Wirtschaft. Und das Konzept vom Businessfremdenlegionär war bereits vor der Krise angeschlagen – zumindest in den westlichen Industriestaaten. Denn Schweizer Unternehmen tun sich schon länger schwer damit, Manager zum Kofferpacken zu bewegen.
Anstieg: Zwischen 2013 und 2017 stieg die Zahl der Entsendungen weltweit jährlich um 5,8 Prozent, hat das Marktforschungsunternehmen Finaccord ermittelt. Für 2021 waren Experten von 87,5 Millionen Expats ausgegangen. Im Golfstaat Katar etwa machen sie fast 90 Prozent der Bevölkerung aus. Die Schweiz gehört weltweit zu den 25 wichtigsten Entsenderländern von Expats. Allerdings steht sie auf dieser Liste lediglich auf Platz 24, mit zirka 90'000 Expats. Nur Singapur hat noch weniger (89'000). Indien ist mit 10 Millionen das Land mit den meisten Expats weltweit.
Kosten: Expatriates sind teuer: Wer die Zelte in der Heimat abbricht, erwartet im Gegenzug ein bequemes Leben in der Ferne. Der Arbeitgeber soll das Schulgeld für die Kinder zahlen, die Miete für eine standesgemässe Unterkunft, das Reinigungspersonal und den Gärtner. Für eine Tätigkeit in besonders unattraktiven Ländern (hier führen Destinationen wie Nigeria, Indien, China die Liste an) erwarten Businessnomaden zudem eine «Härtezulage». Insgesamt sind Expats mindestens 50 bis 80 Prozent teurer als eine lokale Kraft, so Berechnungen der Salärfirma Kienbaum in Zürich.
«Die Entsendungen haben sich ziemlich flach entwickelt, weil es an Mobilität mangelt. Die Angebote sind da – aber Talente fehlen», berichtet Thomas Straessle, Geschäftsführer der Personalberatung Kienbaum in Zürich. Der Arbeitsmarktexperte kennt die Wünsche der Topführungskräfte – und die Nöte der Arbeitgeber. «Für Destinationen wie Schanghai, Singapur oder New York findet sich meist jemand, aber wenn es um den Geschäftsführerposten in Manchester oder Warschau geht, winken viele ab. Da bleibt man lieber in Zürich.»
Zudem komme der versprochene Karrieresprung in vielen Fällen doch nicht, wenn man aus dem Ausland zurück ist. Entweder der damalige Mentor ist weg oder die Firmenkultur hat sich so geändert, dass man nicht mehr up to date ist.
Entglobalisierung der Talente
Die Zukunft der Expatriates beurteilt der Salär- und Personalberater skeptisch. Er erwartet, dass es infolge der Pandemie tendenziell zu einer Entglobalisierung kommt, auch auf dem Arbeitsmarkt. Unternehmen werden in ihren Auslandsniederlassungen verstärkt lokale Kräfte einsetzen, anstatt heimische Manager einzufliegen. «Das ist nicht zuletzt eine Frage der Kosten», so Straessle. Expats sind bis zu 80 Prozent teurer als lokale Angestellte. «Das können sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nur die allergrössten Konzerne überhaupt noch leisten», so Straessle.
Ganz ohne Expats wird es aber auch nicht gehen. Das hat sich zuletzt ausgerechnet in Wuhan gezeigt, dem Ausgangspunkt der Pandemie. Dort wollte der grösste chinesische Hersteller von LCD-Displays, die BOE Technology Group, unlängst seine Fabrik erweitern, musste das Projekt jedoch überraschend stoppen, berichtete die «Financial Times». Der Grund: Maschinen konnten nicht in Betrieb genommen werden, weil die westlichen Hersteller aufgrund der Einreisebeschränkungen ihre Manager nicht nach China entsenden durften.