Neun Jahre lang wälzte Keyu Jin die Bücher an der Elite-Universität Harvard. Zum Ausgleich spielte sie Klavier. Zwei Stunden jeden Tag. Die Werke des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach haben es ihr besonders angetan. «Es war meine Art der Entspannung», sagt die 35-Jährige, die im Verwaltungsrat von Richemont sitzt.
In dieser Machtposition bestimmt Jin über die Strategie des neuen Konzernchefs Jérôme Lambert und wacht über dessen Lohn. Im strategischen Gremium des Genfer Luxusgüterkonzerns soll die gebürtige Chinesin aber vor allem eines sein: Brückenbauerin. Jin ist Repräsentantin einer neuen Generation und soll Richemont dabei helfen, das Business in den asiatischen Boomregionen China, Japan oder Korea noch stärker auszubauen. Vier Monate im Jahr verbringt sie in Peking, um mit den wichtigsten Personen aus Politik, Wirtschaft und Akademie zu sprechen: «Ich bin ein Weltenbürger.»
Aufgewachsen ist Jin in Peking. Mit 14 Jahren kam sie in die USA. Heute spricht sie ein eloquentes Englisch ohne Akzent. Die Zunge redet mit viel Selbstsicherheit und Tempo. Auf Konferenzen überzeugt sie als Rednerin. Für die englische Ausgabe des chinesischen Staatsfernsehens ist Jin ein regelmässiger Gesprächspartner in Sachen Handelskrieg.
Konfuzius trifft auf Scott Fitzgerald
Als sie Peking verliess und in den USA die Schulbank drückte, kämpfte Jin mit kulturellen und sprachlichen Schwierigkeiten. Das erste Buch, das sie in der neuen US-Heimat lesen musste, war ein Klassiker der amerikanischen Literatur: «The Great Gatsby» von F. Scott Fitzgerald. Es war eine Herausforderung, weil die wilden und ausschweifenden USA der 1920er Jahre weit weg waren von der Lebensrealität des Mädchens aus guter chinesischer Familie. In ihrer Erziehung spielten konfuzianische Werte wie Hierarchie und Harmonie eine wichtige Rolle. In ihrer neuen Heimat aber war sie konfrontiert mit exzessivem Verhalten, ausschweifender Leichtigkeit und gelebter Nonchalance.
Jin blieb für das Studium in den USA. Zur Jahrtausendwende schrieb sie sich in Harvard ein. «Es gab damals nur limitierte Möglichkeiten, um in China Karriere zu machen», erklärt die Chinesin den Entscheid. «China war ein anderer Ort damals.» Sie siedelte nach Boston über und kämpfte sich durch die Werke von Keynes, Hayek, Friedman und Samuelson. Der Schachmeister und Ökonom Kenneth Rogoff wurde Doktorvater. Wenn Jin über ihren Förderer und die Zeit an der Universität spricht, geht ihr das Herz auf. Sie strahlt, lacht, verliert den Faden und sagt dann: «Ich habe von der intellektuellen Strenge und Intensität stark profitiert. Die Jahre in Harvard sind die wertvollste Zeit meines Lebens.»
Auf das Studium folgte eine Professur an der London School of Economics. Davor arbeitete sie bei der Federal Reserve Bank in New York und Morgan Stanley in Hongkong. Den ersten Artikel in der «Financial Times» publizierte Jin als Gastautorin mit 29 Jahren. Thema: Schuldenkrise in Europa und was der alte Kontinent von China lernen kann. Co-Autor war ihr Vater Jin Liqun, einst der stellvertretende Finanzminister von China, heute Direktor der asiatischen Infrastrukturinvestmentbank und damit ein enger Vertrauter des obersten Machtzirkels von Peking.
Fahnenträgerin für China
In ihren Publikationen bricht Jin oftmals eine Lanze für China. Sie lobt die Vorteile der Ein-Kind-Politik, rühmt die Jahre des ökonomischen Wachstums und die Koordination des Wirtschaftslebens durch die Politik. Sie plädiert für mehr Offenheit gegenüber einem politischen Regime, das «diszipliniert», «interventionistisch» und «zentral gesteuert» sei.
Den westlichen Medien wirft sie einseitige Berichterstattung vor. Sie greift namentlich die «New York Times» an. Das US-Blatt schreibe nur negative Berichte über die chinesische Politik und vergesse dabei zu erwähnen, welche Möglichkeiten und Chancen das chinesische Volk dank den Entscheidungsträgern in Peking habe. «Die Politiker in Peking haben in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass 800 Millionen Menschen den Weg aus der Armut gefunden haben. Es gibt kaum eine Regierung, die mehr für ihr Volk geleistet hat», sagt Jin.
Den USA dagegen stellt sie ein schlechtes Zeugnis aus. Wie aus der Pistole geschossen kommen Statistiken über den desolaten Zustand amerikanischer Schulen und Strassen. «Wenn 20 Prozent der Kinder im Chemieunterricht krank werden, weil die Ventilatoren nicht richtig funktionieren, dann ist das ein Versagen der US-Regierung», sagt Jin. Und fügt an: «Wenn die Strassen übersät sind mit Schlaglöchern, ist auch das ein Versagen der Verantwortlichen in den USA.»
«Die Politiker in Peking haben in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass 800 Millionen Menschen den Weg aus der Armut gefunden haben.»
Keyu Jin
Geldregen für VR-Posten
Jin redet sich in Rage. Die Akademikerin liebt den Diskurs. Schmallippig wird sie nur, wenn es um ihr Mandat bei Richemont geht. Zu ihrer Rolle beim Genfer Konzern dürfe sie keine Auskunft geben. Es ist jedenfalls ihr einziges Engagement in der Privatwirtschaft. Sie war zunächst im Beirat und rückte 2017 in den Verwaltungsrat vor. Für ihre Partizipation im Gremium erhält sie eine Pauschalentschädigung von 100 000 Franken. Weitere 25 000 Franken gibt es für jede Sitzung, an der Jin physisch anwesend ist. Lässt sie sich via Telefon zuschalten, wird das Salär um 6000 Franken gekürzt. Im letzten Jahr nahm die Ökonomin an vier regulären Verwaltungsratssitzungen und drei Treffen des Nominationsausschusses teil.
Neben Jin sitzen nur zwei weitere Frauen im Verwaltungsrat des Luxusgüterkonzerns. Nur ein anderer Verwaltungsrat hat asiatische Wurzeln. Und abgesehen von Johann Ruperts Sohn, Anton Rupert, ist Jin das mit Abstand jüngste Mitglied des 19-köpfigen Gremiums. Die Chinesin ist also in vielerlei Hinsicht die Ausnahme bei Richemont.
Aufstrebendes Business im Osten
Der jüngste Geschäftsbericht von Richemont, zu dessen Portfolio die Marken Cartier, Baume & Mercier, Montblanc, Vacheron Constantin, IWC und Jaeger-LeCoultre gehören, ist Zeuge der Aufbruchstimmung in Asien. Der Umsatz in der Region kletterte um über 8 Prozent auf 5,3 Milliarden Euro.
Markant war das Plus in China, Hongkong und Macau. In diesen drei Ländern verkaufte Richemont Preziosen im Wert von fast 3 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von über 14 Prozent. In Europa dagegen zeigte der Trend erneut nach unten. Zum ersten Mal seit Jahren sank der Umsatz auf dem alten Kontinent unter die Marke von 3 Milliarden Euro. Die Verkäufe in den USA stagnierten.
China ist auch Spielwiese für den Online-Handel. Die Richemont-Marke Officine Panerai versucht sich in diesem Jahr erstmals mit einer Mobile-Anwendung. Mittels einer neuen Funktion auf Wechat, dem wichtigsten Messenger des Landes, soll die mobile und internetaffine Kundschaft verführt werden. Die Marke Chloé hat ähnliche Tests bereits erfolgreich absolviert.