Unternehmen bewegen sich heute in einem wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch schwierigen Umfeld. Die vergangenen Monate waren geprägt von wirtschaftlichem Abschwung, Katastrophen und Unternehmenszusammenbrüchen. Und auch die nächste Zeit verspricht mit einer Verschärfung des Wettbewerbs und einer Erhöhung des Drucks von Öffentlichkeit und Politik auf die Wirtschaft nichts Besseres. Mit anderen Worten: Unternehmen bestimmen oft nicht mehr selber den Kurs, sondern müssen auf Störeinflüsse reagieren – und dies meist sehr schnell. In solchen Zeiten besteht die grosse Gefahr, dass aus der Hüfte geschossen und einfach die nächstliegende Option umgesetzt wird. Doch gerade in diesen Situationen gilt es, kühlen Kopf zu bewahren und trotz Zeitdruck kompetent zu entscheiden und zu handeln.
Die Zeitfalle
In schwierigen Zeiten entwickelt sich eine Dynamik, die von den Entscheidungsträgern eigentlich viel Zeit zur Analyse und zur Entwicklung von Lösungsoptionen erfordern würde. Der in solchen Situationen von aussen ausgeübte Druck auf das Unternehmen lässt die für die Entscheidungsvorbereitung verfügbare Zeit jedoch dramatisch schrumpfen. Dadurch öffnet sich eine fatale Zeitschere, die ein fundiertes Entscheiden enorm erschwert. Viele Führungskräfte glauben sich in dieser Situation dadurch zu retten, dass sie – gestützt auf ihre Intuition – mutig entscheiden. Diese so genannten Sattelentscheide haben oft fatale Wirkungen.
An die Stelle einer weitsichtigen Zielbestimmung tritt die Taktik, sich einfach durchzuwursteln. Ein Vergleich mit dem Schachspiel drängt sich auf: Während Amateure sich auf die nächsten drei oder vier Züge konzentrieren, denken Grossmeister in strategisch vorteilhaften Stellungen, die sie gezielt aufbauen. Für Letzteres bleibt bei Sattelentscheiden keine Zeit.
Bei der Analyse der Entscheidungssituation beschränkt man sich auf jene Ausschnitte, die am leichtesten zugänglich sind. Dazu gehört vor allem das Kostenmanagement. Die Innovation und der Aufbau neuer Geschäfte erweisen sich meist als viel zu kompliziert und zeitaufwändig. Als Konsequenz daraus ergibt sich eine einseitige Schwerpunktbildung: Gehandelt wird dort, wo das notwendige Instrumentarium vorliegt, die entsprechenden Mittel vorhanden sind und die grösste PR-Wirkung erzielt wird. Also Stellenabbau zur Beruhigung der Aktionäre oder Stellenerhaltung zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung.
Grob vernachlässigt werden bei dieser Art von Entscheidungsfindung mögliche Nebenwirkungen. Zwar können durch einen Stellenabbau die Kosten reduziert werden – aber wie steht es mit der Motivation der verbliebenen Mitarbeiter? Zwar befreit man sich durch Outsourcing vom Ballast unrentabler Betriebsteile – aber verliert man nicht oft heute so wichtige Kernkompetenzen?
Eine weitere Gefahr ist die der Übersteuerung. Die mangelnde Kenntnis des Zeitverhaltens bei Eingriffen in Unternehmenszusammenhänge führt dazu, dass bei Ausbleiben der erwarteten Reaktion sofort nachgedoppelt wird. Greift eine neue Organisationsstruktur nicht innerhalb von einem bis zwei Jahren, folgt sofort die nächste Restrukturierung. Dass Menschen oft länger brauchen, um neue Abläufe und Strukturen zu verdauen, wird nicht bedacht.
Und wenn schliesslich auf Grund der Verkettung aller dieser Unzulänglichkeiten die Situation völlig ausser Kontrolle zu geraten droht, hilft vielen nur noch – unter Berufung auf Sachzwänge – das autoritäre Verhalten, der demonstrative Beweis von Machertum. Dass dies meist zum endgültigen Scheitern führt, ist uns allen bekannt. Gibt es einen Ausweg aus dieser Zeitfalle und ihren unglücklichen Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten? Ein möglicher Ansatzpunkt sind das Gesetz der erforderlichen Varietät und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für ein proaktives Entscheiden und Handeln.
Das Gesetz der erforderlichen Varietät
Das vom Kybernetiker Ross Ashby schon in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Gesetz besagt, dass eine Entscheidungssituation nur dann in den Griff zu bekommen ist, wenn die Entscheidungsträger über gleich viel Varietät (oder Vielfalt) verfügen wie die Situation selber. Dies ist angesichts der immer komplexer werdenden Unternehmenswelt kein einfaches Unterfangen. Eines wird aber sofort klar: Einfache Managementrezepte, alleiniger Verlass auf die Intuition und blosses Machertum können nicht zum Erfolg führen. Komplexität muss akzeptiert und bewältigt werden, auch wenn die Zeit knapp ist.
Unter hohem Zeitdruck müssen Entscheidungsträger zwangsläufig vereinfachen. Dies allerdings nicht in Form von Sattelentscheiden. Es geht um die optimale Vereinfachung – oder nach Albert Einstein: «Man soll die Dinge immer so einfach wie möglich sehen – aber nicht einfacher!» «Einfacher» meint hier, eben alle Fehler, die Sattelentscheiden eigen sind, zu machen.
Optimale Vereinfachung kann im Kontext des Gesetzes der erforderlichen Varietät auf zwei Wegen erzielt werden: durch die Reduktion der Varietät der Entscheidungssituation oder durch Erhöhung der Varietät der Entscheidenden. Die Varietät der Entscheidungssituation lässt sich dadurch reduzieren, dass man die ihr inhärenten Gesetzmässigkeiten oder Spielregeln erkennt. Varietätsgenerierung seitens der Entscheidungsträger bedeutet proaktives Entscheiden und Handeln unter Einbezug aller Betroffenen. Dies sei an einem einfachen Beispiel kurz erläutert.
Der Strassenverkehr hat potenziell eine enorme Vielfalt oder Komplexität. Durch eine einfache Spielregel wird diese auf ein handhabbares Mass reduziert. Die Spielregel lautet: Fahre rechts! Nun gibt es trotzdem an Kreuzungen immer wieder grosse Probleme, die bewältigt werden müssen. Als Varietätsverstärker wurden die Ampeln erfunden. Diese brachten aber nicht immer die gewünschte Wirkung, und so greift man heute wieder auf ein altbewährtes Prinzip zurück: den Kreiselverkehr. Dieser zieht die Automobilisten mit ihrem Denken und Handeln mit ein und hat somit eine viel grössere Wirkung.
Welches sind nun im Management die möglichen Spielregeln auf der einen Seite und die Varietätsverstärker auf der anderen?
Unter Zeitdruck kompetent zu entscheiden und zu handeln, setzt voraus, dass man vorher seine Hausaufgaben gemacht hat. Auf der einen Seite bedeutet es, Muster in Form von Gesetzmässigkeiten der Entscheidungssituation rasch erkennen zu können. Auf der anderen Seite erfordert dies ein Denken in Kreisläufen und ein Handeln mit grösstmöglicher Hebelwirkung sowie – ganz entscheidend – Früherkennung.
Beginnen wir mit den Spielregeln der Entscheidungssituation. Im Mittelpunkt steht hier das Wissen um die Geschäftslogik, die Umfelddynamik und die Unternehmenskultur. Dazu einige Stichworte:
Geschäftslogik
Ist der Fokus kurzfristig (Liquidität), mittelfristig (Strategie) oder langfristig (Lebensfähigkeit des Unternehmens)? Welche Glieder der Wertschöpfungskette sind entscheidend für den Erfolg? Welches sind die Werttreiber (Umsatzwachstum, Gewinnmarge, Investitionsintensität, Kapitalkosten, Ertragssteuern), und wie sensitiv reagiert der Unternehmenswert auf ihre Veränderung?
Umfelddynamik
Welche Wirtschaftszyklen bestimmen unser Geschäft? Welches sind die Charakteristiken des Wettbewerbsumfelds (heutige Wettbewerber, Lieferantenmacht, Käufermacht, mögliche Substitution, neue Wettbewerber)? Welche Technologien könnten das Wettbewerbsumfeld grundlegend verändern? Gibt es ein «Prognosefenster» zum frühzeitigen Erkennen künftiger Umfeldentwicklungen?
Unternehmenskultur Welches ist die dominante Logik des Unternehmens (Marketing, Forschung und Entwicklung, Finanzen, Technologie)? Welches ist die Befindlichkeit des Unternehmens (Aufbruchstimmung, Resignation), wie steht es mit der Veränderungs- und Umsetzungsfähigkeit? Ebenso wichtig wie das Erkennen der Spielregeln ist die Varietätsverstärkung der Entscheidenden im Sinne eines proaktiven Entscheidens und Handelns. Auch hier geht es darum, den einfachstmöglichen, aber wirkungsvollsten Ansatz zu wählen. Im Vordergrund stehen dabei das Anspruchsgruppen-Management, das Kreislaufdenken, das Jiu-Jitsu-Management sowie die Früherkennung.
Anspruchsgruppen-Management: Werden alle legitimen Interessen (Aktionäre, Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, Staat, Umwelt, Öffentlichkeit und Gesellschaft) bei der Entscheidung berücksichtigt? Welche Gruppe hat Priorität, wie können die einzelnen Gruppen zur gesunden Entwicklung des Unternehmens beitragen?
Kreislaufdenken
Welches ist der Motor des Unternehmens, was verstärkt die Kundenzufriedenheit und sichert ein gesundes Wachstum des Unternehmens? Welche Störeinflüsse können diesen Motor zum Stottern bringen? Welche Kreisläufe des Unternehmens wirken sehr rasch (etwa Mitarbeiterförderung und Marketing), welche mittel- bis langfristig (zum Beispiel Forschung und Entwicklung)?
Jiu-Jitsu-Management Wie kann der Schwung der Wettbewerber zum eigenen Vorteil genutzt werden, etwa als «second mover» oder durch Allianzen?
Früherkennung
Wie können Chancen und Gefahren frühzeitig so wahrgenommen werden, dass rechtzeitig proaktiv gehandelt werden kann?
Früherkennung durch Kreislaufdenken
Gerade die Früherkennung erweist sich als überlebenswichtig für ein Management unter grossem Zeitdruck. Die meisten dem Management heute geläufigen Indikatoren haben eines gemeinsam: Ihre Information kommt oft zu spät, dass noch rechtzeitig gehandelt werden könnte. Vor allem die Grössen des Finanz- und Rechnungswesens eignen sich nur sehr bedingt zur Früherkennung. Wahre Früherkennung ist nur dann gegeben, wenn die Vorwarnzeit länger ist als die Reaktionszeit. Wenn beispielsweise mit einer Vorwarnzeit von einem halben Jahr ein Einbruch der Verkäufe vorausgesagt wird, es aber ein Dreivierteljahr dauert, bis die Wirkung des Gegensteuerns eintritt, so kann man wahrlich nicht von Früherkennung sprechen.
Im Mittelpunkt steht der Motor des Unternehmens, der zentrale Kreislauf einer gesunden Unternehmensentwicklung. In diesen Kreislauf eingebettet sind auch die zwei klassischen Indikatoren für den Erfolg des Unternehmens: die Verkäufe und der Betriebserfolg. Zeigen sich hier ungünstige Entwicklungen, ist es bereits viel zu spät für ein proaktives Handeln. Deshalb muss in den Kreisläufen des Unternehmens quasi rückwärts gelaufen werden, sodass Grössen mit genügend Frühwarnzeit bestimmt werden können. In unserem Fall sind das die Nachfrage nach Spezialitäten sowie das Image einerseits bei den Kunden und anderseits bei den eigenen Mitarbeitern.
Das Computerunternehmen hat festgestellt, dass die Nachfrage nach gewissen Spezialitäten, konkret nach Computerkomponenten, einen Vorlauf von etwa einem Dreivierteljahr auf die Verkäufe von Computern hat. Geht also die Nachfrage nach Komponenten zurück, hat das Unternehmen ein Dreivierteljahr Zeit, einem Einbruch beim wichtigsten Verkaufssegment entgegenzuwirken. So erliess das Unternehmen bei scheinbar blühendem Geschäft auf Grund dieser Frühwarnung einen Personalstopp, der sich später als wettbewerbsentscheidend erweisen sollte.
Weitere Indikatoren im Sinne einer Früherkennung sind regelmässige Erhebungen zum Image des Unternehmens bei den Kunden sowie bei den eigenen Mitarbeitern. Bröckelt das Vertrauen bei diesen wichtigen Anspruchsgruppen, so besteht genügend Zeit, Gegenmassnahmen zu ergreifen, bevor die Verkäufe und damit auch der Betriebserfolg massgeblich tangiert werden.
Die Früherkennung ist ein entscheidendes Element zur Vermeidung von Zeitdruck. Ein Früherkennungssystem muss allerdings in ruhigeren Zeiten aufgebaut werden. Sind die Turbulenzen einmal im Gang, so verbleibt dazu keine Zeit mehr.
ZUR PERSON:
Peter Gomez ist seit 1999 Rektor der Universität St. Gallen. Nach Promotion und Habilitation an der Universität St. Gallen war er in Führungspositionen von Ringier, der Distral-Gruppe und der Unternehmerberatung Valcor tätig, bevor er 1990 als Professor für Strategie und Organisation und Leiter des Instituts für Betriebswirtschaft an die Universität St. Gallen zurückkehrte.
Die Zeitfalle
In schwierigen Zeiten entwickelt sich eine Dynamik, die von den Entscheidungsträgern eigentlich viel Zeit zur Analyse und zur Entwicklung von Lösungsoptionen erfordern würde. Der in solchen Situationen von aussen ausgeübte Druck auf das Unternehmen lässt die für die Entscheidungsvorbereitung verfügbare Zeit jedoch dramatisch schrumpfen. Dadurch öffnet sich eine fatale Zeitschere, die ein fundiertes Entscheiden enorm erschwert. Viele Führungskräfte glauben sich in dieser Situation dadurch zu retten, dass sie – gestützt auf ihre Intuition – mutig entscheiden. Diese so genannten Sattelentscheide haben oft fatale Wirkungen.
An die Stelle einer weitsichtigen Zielbestimmung tritt die Taktik, sich einfach durchzuwursteln. Ein Vergleich mit dem Schachspiel drängt sich auf: Während Amateure sich auf die nächsten drei oder vier Züge konzentrieren, denken Grossmeister in strategisch vorteilhaften Stellungen, die sie gezielt aufbauen. Für Letzteres bleibt bei Sattelentscheiden keine Zeit.
Bei der Analyse der Entscheidungssituation beschränkt man sich auf jene Ausschnitte, die am leichtesten zugänglich sind. Dazu gehört vor allem das Kostenmanagement. Die Innovation und der Aufbau neuer Geschäfte erweisen sich meist als viel zu kompliziert und zeitaufwändig. Als Konsequenz daraus ergibt sich eine einseitige Schwerpunktbildung: Gehandelt wird dort, wo das notwendige Instrumentarium vorliegt, die entsprechenden Mittel vorhanden sind und die grösste PR-Wirkung erzielt wird. Also Stellenabbau zur Beruhigung der Aktionäre oder Stellenerhaltung zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung.
Grob vernachlässigt werden bei dieser Art von Entscheidungsfindung mögliche Nebenwirkungen. Zwar können durch einen Stellenabbau die Kosten reduziert werden – aber wie steht es mit der Motivation der verbliebenen Mitarbeiter? Zwar befreit man sich durch Outsourcing vom Ballast unrentabler Betriebsteile – aber verliert man nicht oft heute so wichtige Kernkompetenzen?
Eine weitere Gefahr ist die der Übersteuerung. Die mangelnde Kenntnis des Zeitverhaltens bei Eingriffen in Unternehmenszusammenhänge führt dazu, dass bei Ausbleiben der erwarteten Reaktion sofort nachgedoppelt wird. Greift eine neue Organisationsstruktur nicht innerhalb von einem bis zwei Jahren, folgt sofort die nächste Restrukturierung. Dass Menschen oft länger brauchen, um neue Abläufe und Strukturen zu verdauen, wird nicht bedacht.
Und wenn schliesslich auf Grund der Verkettung aller dieser Unzulänglichkeiten die Situation völlig ausser Kontrolle zu geraten droht, hilft vielen nur noch – unter Berufung auf Sachzwänge – das autoritäre Verhalten, der demonstrative Beweis von Machertum. Dass dies meist zum endgültigen Scheitern führt, ist uns allen bekannt. Gibt es einen Ausweg aus dieser Zeitfalle und ihren unglücklichen Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten? Ein möglicher Ansatzpunkt sind das Gesetz der erforderlichen Varietät und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für ein proaktives Entscheiden und Handeln.
Das Gesetz der erforderlichen Varietät
Das vom Kybernetiker Ross Ashby schon in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Gesetz besagt, dass eine Entscheidungssituation nur dann in den Griff zu bekommen ist, wenn die Entscheidungsträger über gleich viel Varietät (oder Vielfalt) verfügen wie die Situation selber. Dies ist angesichts der immer komplexer werdenden Unternehmenswelt kein einfaches Unterfangen. Eines wird aber sofort klar: Einfache Managementrezepte, alleiniger Verlass auf die Intuition und blosses Machertum können nicht zum Erfolg führen. Komplexität muss akzeptiert und bewältigt werden, auch wenn die Zeit knapp ist.
Unter hohem Zeitdruck müssen Entscheidungsträger zwangsläufig vereinfachen. Dies allerdings nicht in Form von Sattelentscheiden. Es geht um die optimale Vereinfachung – oder nach Albert Einstein: «Man soll die Dinge immer so einfach wie möglich sehen – aber nicht einfacher!» «Einfacher» meint hier, eben alle Fehler, die Sattelentscheiden eigen sind, zu machen.
Optimale Vereinfachung kann im Kontext des Gesetzes der erforderlichen Varietät auf zwei Wegen erzielt werden: durch die Reduktion der Varietät der Entscheidungssituation oder durch Erhöhung der Varietät der Entscheidenden. Die Varietät der Entscheidungssituation lässt sich dadurch reduzieren, dass man die ihr inhärenten Gesetzmässigkeiten oder Spielregeln erkennt. Varietätsgenerierung seitens der Entscheidungsträger bedeutet proaktives Entscheiden und Handeln unter Einbezug aller Betroffenen. Dies sei an einem einfachen Beispiel kurz erläutert.
Der Strassenverkehr hat potenziell eine enorme Vielfalt oder Komplexität. Durch eine einfache Spielregel wird diese auf ein handhabbares Mass reduziert. Die Spielregel lautet: Fahre rechts! Nun gibt es trotzdem an Kreuzungen immer wieder grosse Probleme, die bewältigt werden müssen. Als Varietätsverstärker wurden die Ampeln erfunden. Diese brachten aber nicht immer die gewünschte Wirkung, und so greift man heute wieder auf ein altbewährtes Prinzip zurück: den Kreiselverkehr. Dieser zieht die Automobilisten mit ihrem Denken und Handeln mit ein und hat somit eine viel grössere Wirkung.
Welches sind nun im Management die möglichen Spielregeln auf der einen Seite und die Varietätsverstärker auf der anderen?
Unter Zeitdruck kompetent zu entscheiden und zu handeln, setzt voraus, dass man vorher seine Hausaufgaben gemacht hat. Auf der einen Seite bedeutet es, Muster in Form von Gesetzmässigkeiten der Entscheidungssituation rasch erkennen zu können. Auf der anderen Seite erfordert dies ein Denken in Kreisläufen und ein Handeln mit grösstmöglicher Hebelwirkung sowie – ganz entscheidend – Früherkennung.
Beginnen wir mit den Spielregeln der Entscheidungssituation. Im Mittelpunkt steht hier das Wissen um die Geschäftslogik, die Umfelddynamik und die Unternehmenskultur. Dazu einige Stichworte:
Geschäftslogik
Ist der Fokus kurzfristig (Liquidität), mittelfristig (Strategie) oder langfristig (Lebensfähigkeit des Unternehmens)? Welche Glieder der Wertschöpfungskette sind entscheidend für den Erfolg? Welches sind die Werttreiber (Umsatzwachstum, Gewinnmarge, Investitionsintensität, Kapitalkosten, Ertragssteuern), und wie sensitiv reagiert der Unternehmenswert auf ihre Veränderung?
Umfelddynamik
Welche Wirtschaftszyklen bestimmen unser Geschäft? Welches sind die Charakteristiken des Wettbewerbsumfelds (heutige Wettbewerber, Lieferantenmacht, Käufermacht, mögliche Substitution, neue Wettbewerber)? Welche Technologien könnten das Wettbewerbsumfeld grundlegend verändern? Gibt es ein «Prognosefenster» zum frühzeitigen Erkennen künftiger Umfeldentwicklungen?
Unternehmenskultur Welches ist die dominante Logik des Unternehmens (Marketing, Forschung und Entwicklung, Finanzen, Technologie)? Welches ist die Befindlichkeit des Unternehmens (Aufbruchstimmung, Resignation), wie steht es mit der Veränderungs- und Umsetzungsfähigkeit? Ebenso wichtig wie das Erkennen der Spielregeln ist die Varietätsverstärkung der Entscheidenden im Sinne eines proaktiven Entscheidens und Handelns. Auch hier geht es darum, den einfachstmöglichen, aber wirkungsvollsten Ansatz zu wählen. Im Vordergrund stehen dabei das Anspruchsgruppen-Management, das Kreislaufdenken, das Jiu-Jitsu-Management sowie die Früherkennung.
Anspruchsgruppen-Management: Werden alle legitimen Interessen (Aktionäre, Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, Staat, Umwelt, Öffentlichkeit und Gesellschaft) bei der Entscheidung berücksichtigt? Welche Gruppe hat Priorität, wie können die einzelnen Gruppen zur gesunden Entwicklung des Unternehmens beitragen?
Kreislaufdenken
Welches ist der Motor des Unternehmens, was verstärkt die Kundenzufriedenheit und sichert ein gesundes Wachstum des Unternehmens? Welche Störeinflüsse können diesen Motor zum Stottern bringen? Welche Kreisläufe des Unternehmens wirken sehr rasch (etwa Mitarbeiterförderung und Marketing), welche mittel- bis langfristig (zum Beispiel Forschung und Entwicklung)?
Jiu-Jitsu-Management Wie kann der Schwung der Wettbewerber zum eigenen Vorteil genutzt werden, etwa als «second mover» oder durch Allianzen?
Früherkennung
Wie können Chancen und Gefahren frühzeitig so wahrgenommen werden, dass rechtzeitig proaktiv gehandelt werden kann?
Früherkennung durch Kreislaufdenken
Gerade die Früherkennung erweist sich als überlebenswichtig für ein Management unter grossem Zeitdruck. Die meisten dem Management heute geläufigen Indikatoren haben eines gemeinsam: Ihre Information kommt oft zu spät, dass noch rechtzeitig gehandelt werden könnte. Vor allem die Grössen des Finanz- und Rechnungswesens eignen sich nur sehr bedingt zur Früherkennung. Wahre Früherkennung ist nur dann gegeben, wenn die Vorwarnzeit länger ist als die Reaktionszeit. Wenn beispielsweise mit einer Vorwarnzeit von einem halben Jahr ein Einbruch der Verkäufe vorausgesagt wird, es aber ein Dreivierteljahr dauert, bis die Wirkung des Gegensteuerns eintritt, so kann man wahrlich nicht von Früherkennung sprechen.
Im Mittelpunkt steht der Motor des Unternehmens, der zentrale Kreislauf einer gesunden Unternehmensentwicklung. In diesen Kreislauf eingebettet sind auch die zwei klassischen Indikatoren für den Erfolg des Unternehmens: die Verkäufe und der Betriebserfolg. Zeigen sich hier ungünstige Entwicklungen, ist es bereits viel zu spät für ein proaktives Handeln. Deshalb muss in den Kreisläufen des Unternehmens quasi rückwärts gelaufen werden, sodass Grössen mit genügend Frühwarnzeit bestimmt werden können. In unserem Fall sind das die Nachfrage nach Spezialitäten sowie das Image einerseits bei den Kunden und anderseits bei den eigenen Mitarbeitern.
Das Computerunternehmen hat festgestellt, dass die Nachfrage nach gewissen Spezialitäten, konkret nach Computerkomponenten, einen Vorlauf von etwa einem Dreivierteljahr auf die Verkäufe von Computern hat. Geht also die Nachfrage nach Komponenten zurück, hat das Unternehmen ein Dreivierteljahr Zeit, einem Einbruch beim wichtigsten Verkaufssegment entgegenzuwirken. So erliess das Unternehmen bei scheinbar blühendem Geschäft auf Grund dieser Frühwarnung einen Personalstopp, der sich später als wettbewerbsentscheidend erweisen sollte.
Weitere Indikatoren im Sinne einer Früherkennung sind regelmässige Erhebungen zum Image des Unternehmens bei den Kunden sowie bei den eigenen Mitarbeitern. Bröckelt das Vertrauen bei diesen wichtigen Anspruchsgruppen, so besteht genügend Zeit, Gegenmassnahmen zu ergreifen, bevor die Verkäufe und damit auch der Betriebserfolg massgeblich tangiert werden.
Die Früherkennung ist ein entscheidendes Element zur Vermeidung von Zeitdruck. Ein Früherkennungssystem muss allerdings in ruhigeren Zeiten aufgebaut werden. Sind die Turbulenzen einmal im Gang, so verbleibt dazu keine Zeit mehr.
ZUR PERSON:
Peter Gomez ist seit 1999 Rektor der Universität St. Gallen. Nach Promotion und Habilitation an der Universität St. Gallen war er in Führungspositionen von Ringier, der Distral-Gruppe und der Unternehmerberatung Valcor tätig, bevor er 1990 als Professor für Strategie und Organisation und Leiter des Instituts für Betriebswirtschaft an die Universität St. Gallen zurückkehrte.
Partner-Inhalte