Ausserhalb der Dose ist mit dem Thunfisch nicht zu spassen. Thunfische gehören zur Kategorie der aggressiven Raubfische, vergleichbar mit den Haien und den Schwertfischen. Thunfische erreichen eine Spitzengeschwindigkeit von über 80 Kilometern pro Stunde. Das ist verdammt schnell, wenn man die im Vergleich mit der Luft 700-mal höhere Dichte des Wassers bedenkt.
Thunfische, Haie und Schwertfische sind äusserst erfolgreiche Jäger. Denn sie beherrschen einen Trick: Sie können ihre Körperwärme auf einen Wert ansteigen lassen, der bis zu 15 Grad über der Umgebungstemperatur liegt. Sie heizen sich richtiggehend auf.
Das Aufheizen bedingt zwar einen hohen Energieaufwand, aber es lohnt sich. Das Gehirn ist nun 15 Grad wärmer, die Raubfische können dadurch schneller denken. Die Augen sind nun 15 Grad wärmer, die Raubfische können dadurch schärfer sehen. Schwertfische zum Beispiel, so wiesen Forscher anhand von Lichtreizen nach, können mit ihren beheizten Augen zwölfmal besser sehen als ohne diesen Effekt. Ihre kalten Beutefische wie Makrelen und Sardinen haben deshalb keine Chance gegen die heissen Jäger.
Meister des Aufheizens
Damit wären wir bei Dr. Stiller. Dr. Stiller war mein Chef, als ich zwischenzeitlich für eine deutsche Finanzfirma arbeitete. Er war ein Meister des Aufheizens. Wenn es in Sitzungen um die wirklich entscheidenden Fragen ging, also etwa um das Dienstwagenreglement, dann konnte man hautnah sehen und spüren, wie er sich auflud. Sein Oberkörper spannte sich an, und Dr. Stiller pumpte sozusagen Fernenergie in sich hinein. Dann lockerte er den Krawattenknopf. Am Ende lag seine Körpertemperatur vermutlich nicht 15, sondern mindestens 30 Grad höher als die Umgebungstemperatur. In der anschliessenden Diskussion hatte niemand eine Chance gegen ihn.
Dr. Stiller ist überall. Es ist ja interessant, wie sich gerade auf Chefetagen die kalten und die heissen Fische mischen. Zu den kalten Fischen gehören in der Regel die Leiter der Abteilungen Finanzen, IT, Produktion, Recht und Controlling. Sie sind keine Jäger. Zu den heissen Fischen gehören die Chefs von Marketing, Vertrieb, M&A, Kommunikation und oft auch der CEO selbst. Sie sind auf Beute aus.
Natürlich sind das Klischees. Aber es ist doch amüsant, wie wenig die Klischees von der Wirklichkeit abweichen. Ich habe zum Beispiel noch nie einen Finanzchef getroffen, der in einem Meeting explosiv in die Luft gegangen wäre. Ich habe auch noch nie einen Vertriebschef getroffen, der am liebsten im Büro still vor seinem Computer gesessen hätte.
Vom Thunfisch lernen
Welche von den zwei Fischpopulationen jeweils die Oberhand hat, hängt von der Konjunktur ab. In schlechten Zeiten haben die Finanzer und Produktiönler Oberwasser. Dann ist Vorsicht angezeigt. In guten Zeiten schlägt die Stunde der Vertriebler und Marketer. Dann ist Expansion angezeigt.
Die Thunfische haben derzeit schlechte Zeiten. Sie sind am Aussterben. Grund dafür ist diese gnadenlose Sushi- und Sashimi-Kultur, die von Japan aus den ganzen Planeten überrollt hat. Der Rote Thunfisch etwa, der Stolz des Mittelmeers, droht gänzlich zu verschwinden, ausgerottet durch Überfischung und Piraterie.
Wir enden deshalb mit einem unüblichen, aber fischgerechten Appell: Essen Sie bitte in den nächsten fünf Jahren keinen Thunfisch mehr – lernen Sie lieber von ihm!
Kurt W. Zimmermann ist Verlagsunternehmer. Er ist Kolumnist und Buchautor zu den Themen Medien und Outdoor-Sport. Zudem studiert er Biologie.