Im Jahr 1937 veröffentlichte Frank Fraser Darling das famose Buch «A Herd of Red Deer». Zwei Jahre lang hatte er Rothirsche der schottischen Hochebenen beobachtet. Das Buch revolutionierte die Sichtweise des Herdenverhaltens von Tieren.

Neu war vor allem die Erkenntnis, dass die Hirsche einen ausgeprägten Herdentrieb zeigten, obwohl sie gar keine natürlichen Feinde hatten. Zuvor hatte man den Herdentrieb stets als Fluchtverhalten beim Auftauchen von Raubtieren definiert.

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Es gibt seither in der Wissenschaft zahlreiche Untersuchungen zum Herdentrieb. Sie reichen von Fischschwärmen bis zu Finanzmärkten. Derzeit ist das Phänomen besonders beim Kauf von iPhones und beim Verkauf von spanischen Staatsanleihen zu sehen.

Zwei Arten von Sicherheit

Der Herdentrieb, das macht ihn so komplex, vermittelt zwei Arten von Sicherheit. Er vermittelt manchmal echte Sicherheit, und er vermittelt manchmal nur scheinbare Sicherheit. Man kann also abwägen, ob man besser mit der Masse schwimmt oder sich lieber als Individualist verhält.

Als Neandertaler hatte man es relativ einfach. Wenn alle Neandertaler plötzlich in eine Richtung rannten, dann war es ratsam, mit der Herde zu rennen. Vielleicht rannten sie zwar nur vor einem harmlosen Wildpferd davon, vielleicht war es aber doch ein Säbelzahntiger, der angestürmt kam. Stehen zu bleiben und die Sachlage erst analytisch aufzuarbeiten, war unnötiges Risikoverhalten. Vielleicht war es ja wirklich ein Säbelzahntiger, der gerade um die Ecke bog

Heute ist es komplexer. Es gibt interessante Untersuchungen zum Herdentrieb an Fussgängerstreifen. Wenn bei Rot einige wenige Fussgänger losstürmen, dann folgt ihnen die Masse blind nach. Die Herde senkt dadurch nicht das Risiko, sondern sie erhöht es. Ähnliche Muster zeigen sich bei Massenpaniken. Hier ist es nicht ratsam, mit der Herde zu rennen. Stehen zu bleiben und die Sachlage erst analytisch aufzuarbeiten, ist besseres Risikoverhalten.

Demselben Gesetz folgten die Massenbewegungen in der Finanzindustrie. Herden folgen oft blind ihren Leithammeln. Die Leithammel können Dow Jones, John Meriwether, Bernard Madoff oder Dieter Behring heissen. Sie können aber auch anonym sein. Dann folgt die Masse, wie am Fussgängerstreifen, anonymen Führungsfiguren. Good luck in diesem Fall.

Einfache Regel

Wenn man die Erkenntnisse zum Herdenverhalten systematisiert, dann gibt es eine einfache Regel. Wenn man Nachteile vermeiden will, dann soll man der Herde folgen. Wenn man Vorteile erzielen will, soll man die Herde meiden.

Ein Nachteil ist zum Beispiel der eigene Tod. Hier lohnt sich der Glaube an die Kraft des Kollektivs, genauso wie es die Neandertaler angesichts der Säbelzahntiger taten. Im Risikofall ist auf die Herde Verlass. Herden eignen sich zur Risikovermeidung.

Ein Vorteil hingegen ist zum Beispiel der eigene Gewinn. Hier lohnt sich das Vertrauen in die Kraft des Kollektivs nicht. Massenpleiten an der Börse sind die besten Beispiele dafür. Im Chancenfall ist die Herde unbrauchbar. Herden eignen sich nicht zur Chancenvermehrung.

Der Herdentrieb ist gut gegen Risiken, aber schlecht für Chancen. Er funktioniert gut, um nicht arm zu werden, aber schlecht, um reich zu werden.

Kurt W. Zimmermann ist Verlagsunternehmer. Er ist Kolumnist und Buchautor zu den Themen Medien und Outdoor-Sport. Zudem studiert er Biologie.