Grün, grüner – die Schweiz. Die Eidgenossen stellen den nachhaltigsten Detailhändler der Welt (Coop) und sind punkto Recycling die Masters des Glas-, Aluminium-, PET- und Papier-Universums. Wir konsumieren am bewusstesten (amtierender Bio- und Fairtrade-Champion) und huldigen dem öffentlichen Verkehr (Weltmeister im Bahnfahren). Einem Land, das aus lauter Umweltchampions zu bestehen scheint, müsste in der Trendbranche Cleantech ebenfalls der Spitzenplatz gehören. Wenn die Schweiz den Hauptsitz des Internationalen Grünen Kreuzes stellt, sollte auch die Wirtschaft in der Champions League derjenigen Firmen mitspielen, die mit Technologien, Herstellverfahren und Dienstleistungen zum Schutz und zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen und Systeme beitragen. So sollte es sein. Die Zahlen aber zeigen anderes.
Big Green Business. McKinsey, Ernst & Young und auch der WWF werden nicht müde, den Aufschwung der Clean- oder Greentech zu preisen. Die Strategieberater von Roland Berger etwa sehen in ihrem «Greentech-Atlas 2.0» die globalen Umweltindustrien 2020 einen Umsatz von 3100 Milliarden Euro erwirtschaften; eine Verdoppelung der heutigen Werte. Der WWF prophezeit in seiner Studie «Umweltmärkte in der Schweiz», dass sich der Anteil Berufstätiger, die einen Umweltjob ausüben, bis 2020 von 6,2 (2009) auf 7,3 Prozent erhöhen wird. Dabei kommt das Wachstum nicht vom klassischen Umweltschutzmarkt, sondern von erweiterten Umweltmärkten, Wirtschaftszweigen, die sich wie die Bau- und Nahrungsmittelindustrie ökologischen Produktions- und Produktprinzipien verschrieben haben.
Die Treiber der Bewegung sind klar: weltweit wachsender Bedarf an Rohstoff- und Materialeffizienz aufgrund knapper werdender Ressourcen, zunehmende Mobilität, wuchernde Städte, die intelligenter mit Energie und Schadstoffausstoss umgehen müssen, Konsumenten, die vermehrt auf nachhaltige Produktion achten und so den Handel unter Druck setzen. Befeuert wird der Markt zusätzlich von Subventionen, die von zahlreichen Regierungen ausgeschüttet werden. Gemäss Zahlen von 2009 wird dem breit angelegten Cleantech-Sektor in der Schweiz – er reicht von erneuerbaren Energien und Energieeffizenz über nachhaltige Mobilität, Land- und Waldwirtschaft bis hin zur Biotechnologie – eine Beschäftigung von 160 000 Personen zugeschrieben. Das sind ungefähr gleich viele wie im Tourismus. Dem Begriff Cleantech lassen sich mit gutem Willen auch längst etablierte Berufe wie Kaminfeger oder Sanitärmeister zuordnen. Derzeit lässt der Bund neue Zahlen ermitteln, die bis 2013 vorliegen sollen. Mit einer Offensive will Bern das Thema der Umwelttechnologien vorwärtsbringen, «um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Schweiz durch Innovationen zu stärken», wie es im «Masterplan Cleantech» von 2011 heisst.
Zu tun gibt es viel, denn um die Wettbewerbsfähigkeit steht es nicht besonders gut. Gemäss dem Cleantech Countries Innovation Index (siehe Tabelle auf Seite 74) liegt die ansonsten so eifrige Schweiz nur im Mittelfeld. Man hat im Bereich der Patente den früheren Vorsprung eingebüsst und ist bei der Versorgung der Firmen mit Wagniskapital und beim Ausbau erneuerbarer Energien zurückgeblieben. Wird der vom Bund angepeilte Atomausstieg zum Turbo, der das Land wachrüttelt, neue Berufsbilder schafft und – analog der IT-Branche etwa – grossen Bedarf an Spezialisten schafft? Das Bye-bye zur Kernkraft als Jobbeschaffungsprogramm? So sieht man es nicht beim Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT). «Aber wir können davon ausgehen, dass mit der Energiewende – der Atomausstieg ist ja nur der Auslöser – in den nächsten Jahrzehnten ein Innovationsschub verbunden ist, und der wiederum führt zu neuen Arbeitsplätzen», sagt Sebastian Friess, Leiter Grundlagen Innovationspolitik beim BBT.
Dass die weltweit erwarteten Wachstumsraten sich in diesem Masse auch auf das Umwelt-Musterland Schweiz auswirken werden, wird aber im Papier zum «Masterplan Cleantech» bezweifelt. An Massenmärkten wie etwa Solarenergie oder Energiespeicherung werde die Schweiz aufgrund der hohen Lohnkosten kaum partizipieren können, und wenn, dann nur in der hochklassigen Nische. In Bereichen wie dem Fahrzeugbau fehle die Systemführerschaft. Dem Land würde hier eine ähnliche Rolle bleiben wie in der Automobilindustrie: als Zulieferer in einem kostentechnisch hart umkämpften Markt.
Weiterbildungsoffensive. Wolle die Schweiz im weltweiten Cleantech-Boom eine Rolle spielen, wolle sie ihren verspielten Vorsprung zurückerobern, müsse sie zuerst einmal in der Aus- und Weiterbildung Gas geben, sagt Umweltökonom Ueli Bernhard, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Greenjobs in Bern: «Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen Ländern Nachholbedarf bei der gesamtheitlichen Betrachtung der Greenjob-Thematik. Man fördert beispielsweise Investitionen in die Solarbranche. Aber was nützt das, wenn man dann nicht genügend Fachkräfte hat, die diese Anlagen auch zu installieren wissen? Es gibt bisher keine eidgenössisch anerkannten Solarfachleute.»
Auf Stufe der Berufsbildung gehe es jetzt vor allem darum, bereits bestehende Berufsbilder weiterzuentwickeln, sagt Bernhard: «Ein Netzelektriker muss künftig auch Smart-Grid-Kompetenzen mitbringen, damit eine dezentrale Energieversorgung nach neuestem Stand der Technik aufgebaut werden kann.»
In diese Richtung zielen die Anstrengungen des BBT. Es sollen nicht primär Cleantech-spezifische Berufsbilder geschaffen werden, sondern man will Umweltkompetenzen in schon existierende Berufe integrieren. Konkret heisst das, dass etwa im Baubereich die Berufsbilder der Kältesystemmonteure und -planer um den Schwerpunkt Wärmepumpensysteme aufgewertet werden. Derzeit, heisst es im BBT, sei man daran, alle Bildungsgänge der beruflichen Grundbildung vertieft auf Cleantech-relevante Inhalte zu prüfen. Es können aber auch neue Berufe entstehen. In der Pipeline sind etwa der Projektleiter Solarmontage, der Rohstoffaufbereiter oder der Fachmann für Entsorgungsanlagen.
Gefordert ist aber auch die Hochschullandschaft. Das Institut für Wirtschaft und Ökologie der Uni St. Gallen etwa hat letztes Jahr zwei neue Weiterbildungsprogramme aufgelegt, die ganz auf die neuen Green-Job-Märkte abzielen: ein Diploma of Advanced Studies im Bereich des Managements erneuerbarer Energien und ein Diplom in Nachhaltigkeitsmanagement. Rolf Wüstenhagen, Direktor des Instituts und Inhaber des Lehrstuhls Erneuerbare Energien, sieht die HSG damit in einer Vorreiterrolle. «Wir wünschten uns, andere würden nachziehen. Die Anzahl der Professuren im Energie- und Nachhaltigkeitsbereich steht in einem Missverhältnis zur grossen gesellschaftlichen Relevanz des Themas.» Die Unis und die ETH, so Wüstenhagen, seien eben ein Abbild der bisherigen Energiepolitik der Schweiz. Das müsse sich mit dem angestrebten Atomausstieg ändern. «Die Fachhochschulen haben sich deutlich schneller auf die Zukunft ausgerichtet», meint der Experte für erneuerbare Energien selbstkritisch.
So lanciert die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften auf den Herbst 2012 an der School of Engineering einen Bachelor-Studiengang Energie- und Umwelttechnik. Angehende Ingenieure spezialisieren sich in energierelevanten Themen der Elektrotechnik und des Maschinenbaus und in Umweltfragen. Die Resonanz auf die Ankündigung sei gross, sagt Studiengangleiter Joachim Borth. «Wenn die Energiewende wirklich kommt, wird die Nachfrage nach Fachleuten in der Schweiz deutlich steigen», prophezeit er. Rund 200 bis 500 Absolventen und Absolventinnen des Studiengangs könnten pro Jahr dereinst gefragt sein. Die Zahl beruht auf Erfahrungen aus Deutschland, die Borth auf die Schweiz heruntergebrochen hat.
Verschobenes Job-Wunder. Dass in der Aus- und Weiterbildung vorwärtsgemacht wird, ist nötig. «In den meisten Ländern wurde der Bildungsbedarf, der sich aus den Cleantech-Märkten ergibt, unterschätzt», weiss Peter Poschen, Experte für Nachhaltigkeit bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Die ILO gibt dem Thema Green Jobs eine hohe Priorität. «Der Charakter der Arbeit ändert sich durch die grüne Wirtschaft entscheidend», so Poschen.
Ob dann letztlich alle Absolventen von Umweltausbildungen einen geeigneten Job finden werden, steht auf einem anderen Blatt. Es ist nicht so, dass Energiekonzerne und Export-KMU händeringend nach Cleantech-Champions suchen. 2010 hat sich das BBT im Bericht «Fachkräftesituation in Berufen mit Cleantech-Potenzial» bestätigen lassen, dass die Indikatoren nicht auf einen Fachkräftemangel hinweisen. Einzige Ausnahme: Bei Mechanikern, Bautechnikern im Bauhauptgewerbe übersteige die Nachfrage der Firmen das Angebot.
Gebäude intelligenter machen, den Energieverbrauch drosseln – das scheint ein erster grosser Wachstumsmarkt zu sein. «Den Hauptboom bezüglich Beschäftigungszahlen erwarte ich im Baubereich», sagt Helene Sironi vom Bildungszentrum WWF. Damit verbunden werden Beraterjobs sein, denn mit der Anwendung neuer Technologien in Gebäuden stellen sich Bauherren, Behörden und Baufirmen knifflige Fragen, die Fachwissen erfordern. Kanton und Stadt St. Gallen etwa bauen gemeinsam mit Partnern eine Energieagentur auf – eine Anlaufstelle für sämtliche Energiefragen.
HSG-Professor Rolf Wüstenhagen sieht den Beratermarkt als wichtigen Motor für die Schaffung von Green Jobs. Wachstum prophezeit er auch in der Gebäudetechnologie, wo die Schweiz führend ist, und natürlich bei den Stromkonzernen, die mit der Wende neue Wege einschlagen und sich das Wissen dafür von aussen holen müssen. Bei der Axpo bestätigt man den Bedarf an Spezialisten – bis jetzt bewegt sich der Mitarbeiteraufbau allerdings «im kleinen einstelligen Bereich», wie es heisst.
Gemäss Masterplan müsste Cleantech aber auch ein Exportthema werden. In der klassischen Exportbranche der Schweiz schlechthin, der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, drücken derzeit aber noch andere Sorgen als die Suche nach Umweltspezialisten: «Die Nachfrage nach klassischen Ingenieuren ist nach wie vor sehr hoch, es besteht aber im Vergleich kein erhöhter Bedarf an solchen mit Umweltschwerpunkt», sagt Robert Rudolph, Leiter Bildung und Innovation beim Verband Swissmem. Im Energiebereich kann nicht als sicher gelten, dass Grossfirmen wie Alstom, Siemens oder ABB in der Schweiz massenhaft Spezialistenjobs schaffen werden. Wenn sich andere wichtige Märkte dynamischer entwickeln, kann das Wachstum dieser Konzerne auch vor Ort stattfinden.
Ob Boom oder Mini-Boom – einig sind sich Fachleute über eines: Grüne Jobs sind eine Chance für die Frauen. «Sobald eine sinnstiftende Komponente hinter einem Beruf steckt, steigt das Interesse der Frauen», weiss Greenjobs-Geschäftsführer Ueli Bernhard. Nachhaltigkeit generell sei bei den Jungen hoch im Kurs, was dem Lehrstellenmarkt Impulse geben sollte. Ähnliches sieht Rolf Wüstenhagen auf Tertiärstufe. «Im zweiten Lehrgang zum Diplom für erneuerbare Energie haben wir einen Frauenanteil von knapp 50 Prozent. Das ist ungewöhnlich hoch.»