Ich wollte eigentlich ein genialer Chirurg werden, der Patienten am Hirn oder am Herzen operiert, die dem Tod geweiht sind und die dank meiner Kunst das Spital geheilt verlassen würden. Dann musste ich an der Anatomieprüfung den Unterkiefernerv eines tot Geborenen präparieren, ich fand ihn nicht und schnitt ihn in meiner Ungeschicklichkeit weg. Der prüfende Professor erklärte mich für durchgefallen. Dies ist die einzige Prüfung meines Lebens, bei der ich durchfiel. Und das war sicher gut so, denn wer den Nervus mandibularis eines Toten nicht findet, sollte nicht an lebenden Menschen herumschneiden. Ich wurde dann halt Internist.
Der legendäre Innsbrucker Bergsteiger Hermann Buhl war mein Vorbild in der Kletterkunst. Buhl bewältigte schwierigste neue Routen mit unnachahmlicher Eleganz, er war ein Klettergenie. Meine Versuche im Fels waren demgegenüber laienhaft und unelegant. Ich sah dies ein und wurde aus diesem Grund nicht Berufsbergsteiger oder Bergführer, sondern Arzt.
Geniale Kunst – wie Åke Senning in Zürich Herzen operierte oder wie Ueli Steck allein durch Nordwände sprintet – ist zu 98 Prozent Perspiration und zu 2 Prozent Inspiration. Mit der entsprechenden Motivation kann vieles erreicht werden, die ärztliche Kunst ist zu einem guten Teil erlernbar. Für so etwas wie Bachs «Kunst der Fuge» braucht es hingegen noch mehr. Das Kunsthandwerk der Chirurgie hätte ich wohl erlernen können. Als Unterassistent in einem kleinen Spital operierte ich einmal einen Blinddarm. Glücklicherweise wusste der Patient nichts davon … Er nahm keinen Schaden, doch ich sagte mir, dass erlerntes Handwerk allein nicht genügt, um wirklich gut zu sein. Es gibt heute Arbeitsablaufdiagramme, in der «Ärztezeitung» sind Ratgebertexte für alle nur denkbaren Karrieren abgedruckt. Das meiste ist erlernbar. Sogar Empathie kann mittels eines Fragebogens praktiziert werden.
Aber es ist nicht echt. Alles bleibt Fassade, wenn es nur erlernt und nicht angeboren ist.
Das Einsetzen von Knieprothesen oder das Beurteilen von Computertomogrammen kann durch Kurse und Guidelines auf ein beachtliches Niveau gebracht werden; die Fähigkeit, mit einem Patienten über das Ende des Lebens und die Kunst des Sterbens zu sprechen und ihn dabei zu begleiten, ist aber nur begrenzt vermittelbar. Auch eine Klettertour im höchsten Schwierigkeitsgrad kann heute von vielen bewältigt werden; für den Zug darüber hinaus braucht es die zwei Prozent Inspiration, die nicht erlernbar sind.
Reinhold Messners Karriere zum erfolgreichsten Bergsteiger aller Zeiten beruhte zu 98 Prozent auf gnadenloser Selbstschinderei. Die restlichen 2 Prozent waren seine Kühnheit, Grenzen zu verschieben, die andere nicht einmal erkannt hatten: Niemand konnte sich 1974 vorstellen, Achttausender im Handstreich, allein und ohne Flaschensauerstoff zu besteigen. Messner stellte sich das nicht nur vor, sondern machte es auch.
Die zwei Prozent Inspiration liessen Andreas Grüntzig vor über 30 Jahren die erste Ballondilatation einer Herzkranzarterie beim Menschen durchführen. Seine einstigen Widersacher und Chefs hingegen, denen diese zwei Prozent fehlten, sind heute längst vergessen.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.