Yangdu leitet in Delhi eine Trecking-Agentur, sie organisiert für mich Inlandflüge, Träger und falls nötig einen lokalen Guide. Im letzten Herbst hatte ich zwölf freie Tage und beschloss, in Nepal um den Manaslu, den «schönsten Achttausender», herumzulaufen. Das sei unmöglich, mailte sie mir, allein für die Wanderung bräuchte ich sechzehn Tage, dazu komme noch die Reise nach Kathmandu und zurück. Am Telefon erklärte ich ihr dann, dass ich die Strecke grösstenteils kenne und 1972 und 1989 in wenigen Tagen bewältigt hätte. Für den Zehn-Tage-Rückmarsch vom Base Camp hatte ich 1989 zweieinhalb Tage gebraucht. Yangdu erwiderte, da sei ich wohl noch sehr jung und fit gewesen.
Ich fühlte mich wie die Journalistin Klara Obermüller, als in ihrem Personalausweis die Berufsbezeichnung «Rentnerin» eingetragen werden sollte: Ich war gekränkt. Mein schleichender Verfall, den ich bemerke, aber zu vertuschen suche, war also schon in Indien ruchbar geworden. Und mir wurde er gerade wieder am Südpfeiler des kleinen Glatten bewusst, an dem ich vor fünfzehn Jahren noch locker vorausgeklettert war. Röbi musste das Seil sehr straff einziehen. Darum werde ich auch hierzulande immer öfter gefragt: «Ja machst du das denn immer noch?» Worauf ich jeweils trotzig antworte: «Ja, bis ich tot bin.»
Dabei ist die Nachspielzeit schon seit Urzeiten eingeläutet. Der Schulthess-Klinik-Chefarzt Alfred Müller meinte unlängst im «Tages-Anzeiger» anlässlich eines Interviews zu Federers Rücken: «Die Strukturen eines menschlichen Körpers sind nicht für die Ewigkeit gemacht … Ab achtzehn geht es eigentlich nur noch bergab.» Ab achtzehn! Die Lungenfunktion, die die Fähigkeit des Körpers, Sauerstoff aufzunehmen, limitiert, nimmt ab dem zwanzigsten Lebensjahr kontinuierlich ab, so ab fünfzig merkt man das, ob man raucht oder nicht. Sportler und Bergsteiger haben mit den Jahren schlechtere Karten als Politiker. Denken Sie nur nur an Robert Mugabe, der sich mit 89 Jahren erneut zum Präsidenten Simbabwes küren liess.
Dem Lauf der Zeit zum Trotz ist Roger Federer schon mehrmals zurückgekommen, und auch der schon abgeschriebene Rafael Nadal überwindet dank Adrenalin seine Knieschmerzen. Reinhold Messner hatte erst mit zweiundvierzig Jahren alle seine Achttausender beisammen und Bernhard Russi an seinem sechzigsten Geburtstag die Route Excalibur in den Wendenstöcken. Inzwischen ist ein achtzigjähriger Japaner mit viel Sherpahilfe und Sauerstoff auf den Everest gestiegen. Also liess ich mir als Siebzigjähriger von Yangdu meinen Plan nicht ausreden und bat sie, mir einen schnellen Träger zu besorgen, dem ich den doppelten Lohn zahlen würde.
Ich war dann schon erstaunt, wie lange gewisse Strecken waren. Was ich 1989 in zweieinhalb Tagen geschafft hatte, brauchte nun vier Tage. Am Larkya La auf 5160 Metern war die Luft deutlich dünner als früher, der Manaslu aber mindestens so schön wie 1972. Neun Stunden Steigen und Gehen, unterbrochen von kleinen Pausen. Tee beim achtzigjährigen Yakhirten und Sinnieren über die Endlichkeit bringen die Leichtigkeit des Seins zurück, auch wenn es etwas länger dauert. Start jeweils um sieben Uhr am kalten Morgen, Ankunft um 17.20 Uhr. Statt sechzehn Tagen brauchte ich acht für die Manaslu-Runde. Yangdu versprach, auch meine nächste verrückte Idee zu akzeptieren.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.