Wir stiegen über den Grenzgletscher zu unserem Forschungslaboratorium in der Capanna Regina Margherita auf 4559 Meter Höhe am Monte Rosa, mehr als 1700 Aufstiegsmeter waren zu überwinden. Ich hatte die Route schon zweimal gemacht, strotzte in so einfachem Gelände vor Selbstvertrauen und war der CEO unserer Fünfertruppe.
Ein Ruck an meinem Klettergurt zwang mich in die Knie, das Seil hinter mir zog in ein Loch, das vorher nicht existiert hatte. Lazlo war in eine verborgene Spalte gestürzt. Auf eine solche Krise waren wir vorbereitet, auf beiden Seiten des tiefen Abgrunds wurden die Seile fixiert, dann zogen wir Lazlo mit der oft geübten Technik wieder ans Licht.
Unbeirrt marschierte ich danach weiter, es begann zu schneien. Die Route konnte ich nicht mehr erkennen und irrte hinauf in ein wattiges Whiteout. Eine scheinbar unüberwindbare Eiswand stellte sich uns in den Weg, schliesslich fand ich zwischen labilen Schneebrücken einen Durchstieg. Es war ein Blindenaufstieg, chaotisch wie die Panikreaktionen der Anführer in Politik und Finanzwirtschaft, die, gespeedeten Marionetten gleich, von innert Mikrosekunden agierenden Börsen manipuliert werden.
Peter äusserte Zweifel an meiner Führungsfähigkeit. Ob ich wisse, wo wir uns befänden, und ob ich Karte und Kompass hätte? Nein, das hatte ich nicht und wechselte noch schneller die Aufstiegsrichtungen. In meiner Selbstherrlichkeit hatte ich meine Freunde in eine echte Krise manövriert.
Dann ging mir plötzlich auf, dass noch mehr hektische Betriebsamkeit unsere Lage weiter verschlimmern würde, und ich wurde ruhig. Ich erklärte den Kollegen meine Ratlosigkeit. Wir würden in einer Gletscherspalte biwakieren und auf bessere Sichtverhältnisse warten.
Das ist vergleichbar mit den Verhaltensmustern, die der Bundesrat bisher mit Erfolg praktiziert hat. Lazlo fragte schlotternd, ob er das wohl überleben würde. Wir setzten ihn in der Tiefe der Spalte in unsere Mitte, ein Biwaksack für zwei musste für eng aneinandergepresste fünf reichen. So wurde es warm, schmelzender Schnee löschte den Durst, zu essen hatten wir nichts.
Am Morgen verzog sich der Sturm, wir fanden den Aufstieg zur Spitze – zum ersten Grappa, zu Tee und Pasta. Lazlo war glücklich, dass er noch am Leben war, und sehr stolz, oben angekommen zu sein.
Die meisten von uns bauen gelegentlich Mist und finden sich dann mittendrin. Da wären Gelassenheit und Reflexion statt Hektik und populistisches Flickwerk gefragt, irgendwann sind ja bis jetzt die Nebel noch immer verflogen. Die gegenwärtige Hysterie über den Zerfall von virtuellen Zahlen lässt ausser Acht, dass dabei physisch keine einzige Kartoffel und keine Flasche Wein vernichtet wurden. Nur die aber sind letztlich geniessbar.
Da könnten der Bundesrat, Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und noch einige andere von Gerlinde Kaltenbrunner lernen. Sechsmal versuchte die beste Höhenbergsteigerin der Geschichte, den K2 zu besteigen. Unwetter, Lawinen, widrigste Verhältnisse und einmal der Absturz eines Freundes zwangen sie über Jahre zum Abwarten oder Umkehren. Am 23. August um zwei Uhr morgens startete sie auf 8300 Metern zu ihrem siebten Versuch. Der Aufstieg war mühsam und qualvoll. Um 18 Uhr 18 stand sie auf dem Gipfel des K2 im vierzehnten Himmel der Achttausender. Also: Gelassenheit, Abwarten und im entscheidenden richtigen Moment «Gring abe u seckle».
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.