«Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen;
Ihr durchstudiert die gross’ und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen,
Wie’s Gott gefällt.»
(Mephistopheles in Goethes «Faust»)
Mephistopheles beschrieb in obigem Zitat die bis vor wenig mehr als hundert Jahren beste Praxis der ärztlichen Kunst: Die medizinische Welt wurde mittels Pulslehre und Harnbeschau studiert – und dann folgte die Resignation. Vernünftige Ärzte verordneten Umschläge, Tee, Bettruhe, Wein und gelegentlich Morphium. Dazu kamen Anteilnahme und Hausbesuche. Das war die ärztliche Kunst. Unsere gescheiten Vorgänger wussten, dass Krankheiten entweder von selbst heilten oder zum Tod führten. Die meisten medizinischen Massnahmen nützten nichts oder schadeten dem Patienten. Wer allerdings wie Ludwig XIV. reich oder wichtig war, wurde mittels Aderlass, Einläufen, Zahnausreissen und weiterer Quacksalberei gequält und überlebte nur bei robuster Gesundheit.
Da haben wir es heute herrlich weit gebracht: Dank Wissenschaft, Evidenz und Qualitätsmanagementsystemen hat sich unsere Lebenserwartung und häufig auch Lebensfreude dramatisch verbessert. Diese technische Entwicklung gibt allerdings für die wirklich Begabten Anlass zur Sorge: Zumindest die Chirurgen werden irgendwann durch Roboter und Nanotechnologie ersetzt werden. Und auch die Internisten werden künftig wohl durch Biosensoren, individuelle Genom-Analyse und individualisierte Therapie unterstützt und irgendwann unnötig. Auch die Psychiatrie soll modernisiert werden: Die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung der Diagnose durch zwei Psychiater bei einem Patienten ist ja kaum mehr als zufällig. Hier sollen nun Checklisten die Unsicherheit beseitigen und sowohl Geld als auch Psychiater sparen. Guidelines lassen Fehler vermeiden, verbessern die Praxis der Medizin und ersparen das Nachdenken. Sie werden von Fachleuten erstellt, die ihr Spezialgebiet genau überblicken.
Bundesamt für Gesundheitsterror
Die Entwicklung der ärztlichen Kunst von einer Reparatureinrichtung für abgebrochene Lebenslust hin zur Gedankenlosigkeit der Leitlinien hat Petr Skrabanek als «The Tyranny of Health» beschrieben. Hierzulande haben wir dafür das Bundesamt für Gesundheitsterror. Darum verbieten Ärzte ihren Patienten das Glas Rotwein, weil sich das nicht mit den vielen Medikamenten verträgt, und Kranken mit metastasiertem Lungenkrebs die Zigaretten. Sie haben aber noch immer nicht gelernt, dass auch die beste Medizin alles Ende nur verzögert und die Qualität der Zeit bis dahin entscheidend wäre.
Hier ist nun Platz für die verbleibende ärztliche Kunst der Empathie und des Gesprächs. Dazu gehören die Gespräche am Ende des Lebens. Die meisten Patienten sind bei schwierigen Entscheidungen mit der Auswahl verschiedener Optionen überfordert. Patientenautonomie bedeutet nicht endloses Auswählen, sondern, wie manche es formulieren, «lei è il dottore, lei deve sapere». Dies setzt eine Fähigkeit voraus, die das Arztsein ausmacht. Franz Ingelfinger, ein berühmter Mediziner, beurteilte 1980 seine eigenen Ärzte am Ende seines Lebens: «Ein Arzt, der dem Patienten lediglich seine Warenauswahl offeriert und dann sagt, ‹wähl aus, es ist dein Leben›, verdient nicht den zwar etwas angekratzten, aber immer noch besonderen Titel eines Doktors.»
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.